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Sichtungen. Archiv - Bibliothek - Literaturwissenschaft ISSN: 1680-8975
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Bericht über das Symposion »The Library as a Cultural Institution« an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, 28./29. September 1998

Volker Kaukoreit

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Sichtungen 2 (1999), S. 305-309
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2001-12-29
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[2/ S. 305:] Zur nächsten SeiteEs war, als wäre man am ›heiligsten Ort‹ zusammengekommen, um über den rechten Glauben zu richten. Denn umgeben vom ›Buch der Bücher‹, im Bibelsaal der altehrwürdigen Bibliotheca Augusta zu Wolfenbüttel wurde zwei Tage lang sinniert und disputiert über die Zukunft des (wissenschaftlichen) Bibliothekswesens, genauer gesagt, über die Auslöschung der, wie es in der Symposions-Ankündigung hieß, »Physis der Bücher« und damit der »Physis der Bibliotheken« durch die neueste EDV-Entwicklung, allem voran das Internet. Daß gerade in diesem Rahmen eine der zentralen, von Uwe Jochum (Universitätsbibliothek Konstanz) und Joachim-Felix Leonhard (Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt am Main / Berlin) vorgelegten Arbeitshypothesen bzw. Diskussionsgrundlagen besonders griffig erschien, nimmt kein Wunder, nämlich »daß die der Datentechnik inhärente Logik des Sendens von Daten in Datennetzen die alte Logik der Örtlichkeiten ablöst, die konstitutiv für das kulturelle - und darin eingeschlossen: das kommunikative Gedächtnis ist. Das kulturelle Gedächtnis ist nämlich nicht nur ein Gedächtnis von Örtern und Ereignissen, es ist vielmehr in hohem Maße von einer Ritualisierung abhängig, für die es konkrete Örter und Institutionen wie Archive, Museen und Bibliothe-Zur vorigen Seite [2/ S. 306:] Zur nächsten Seiteken braucht. Von daher ist datentechnische Konversion der Bibliotheken nicht die Vollendung der universalen Bibliothek, sondern die Löschung desjenigen Teils unseres kulturellen Gedächtnisses, der auf Bücher und Bibliotheken [...] angewiesen ist. Zu fragen bleibt, ob und in welcher Form die virtuelle Bibliothek einen Ersatz für das auf Physis und Örtlichkeit angewiesene kulturelle Gedächtnis bieten kann« (Hervorhebungen von V. K.).

Aufgrund der weitgreifenden Konsequenzen erschien es schlüssig, solcherlei Fragen nicht allein aus der (internationalen) Perspektive von Bibliothekaren, Archivaren und Dokumentaristen beleuchten zu lassen, sondern auch auch aus der Sicht des Medien- und Editionswissenschaftlers, des Verlegers und Soziologen, d. h. gleichsam einer Überprüfung zu unterziehen, die weder die Herangehensweisen der ›Praktiker‹ noch die der ›Theoretiker‹ und ›Fachwissenschaftler‹ vernachlässigte.

Die Skepsis gegenüber der neuesten Entwicklung in Richtung »virtueller Bibliothek« wurde auffällig oft im Rückgriff auf Denkmuster der traditionellen Subjektphilosophie und Hermeneutik, ja sogar der Theologie und auf der Folie moralisch-ethischer Einwände begründet. Hier gingen die Diskussionen ins Grundsätzliche, oft zugunsten des nicht einverstandenen Gegenübers, etwa als Uwe Jochum ins Feld führte, daß die Nähe von beliebigem Angebot (Reizwort: Pornographie) und anspruchsvoller ›Literatur‹ auf dem Internet-Markt letztere entwerte. Diesbezüglich aufschlußreich und differenzierend waren besonders die Diskussionsbeiträge von Peter Vodosek (Hochschule für Bibliotheks- und Informationswesen, Stuttgart), der darauf hinwies, daß technisch bedingter Strukturwandel im medialen und kommunikativen Bereich, z. B. durch die Erfindung des Telefons, Grammophons usw., immer von einer Art Abwehr und Entrüstung begleitet gewesen sei. Auch könne man nicht von einem idealisierten Leser-Typus ausgehen; Lesen sei kulturgeschichtlich unterschiedlich definiert, was Vodosek allein durch den nüchternen Nachweis verschiedener Lesegewohnheiten in einzelnen europäischen Ländern zu belegen wußte.

Im Kern traditionell, aber nuanciert argumentierte Werner Arnold (Wolfenbüttel), der von der durch die Bibliothek gewährleisteten ›Wahrung der Individualität‹ ausging, im Gegensatz zur ›unübersichtlichen Quantität‹ des Internet-Angebots (»Einheit« vs. »Vielfalt«). Arnold bestritt die derzeitige Leistungsfähigkeit sogenannter »Suchmaschinen« und forderte, daß die virtuelle Bibliothek nach bewährten Kriterien zu strukturieren sei (differenzierte Kataloge). In dieser Hinsicht hätte sich gerade die bibliothekarische und archivalische Kom-Zur vorigen Seite [2/ S. 307:] Zur nächsten Seitepetenz als Garant für eine quellengesicherte und eigenen Paradigmenwechseln unterliegende Forschung erwiesen (z. B. Diplomatiehistorie vs. sozialgeschichtliche Geschichtsschreibung). Kompetente Erwerbung und Erschließung müsse insbesondere in Sparzeiten des öffentlichen Haushalts als ›wesentliche Aufgabe‹ des Bibliotheks- und Archivwesens verteidigt und weiterhin unter dem (aus den republikanischen Wurzeln der Aufklärung kommenden) Gesichtspunkt »demokratischer Zugänglichkeit« verstanden werden. Den budgetären Erfordernissen wäre durch ›Profit-Erzielung‹, aber nicht durch ›-Maximierung‹ Rechnung zu tragen. Ziel bleibe die Schaffung von Wissen und nicht die Anhäufung von Informationen, weshalb sich die Bibliotheken verstärkt in den kulturtheoretischen Diskurs einschalten und auch vermehrt mit der Forschung absprechen sollten. Letzteres beträfe etwa auch die Frage, welche Texte und Dokumente ›ins Netz‹ zu stellen seien, da eine 1:1-Überführung der traditionellen Bestände in digitalisierte Formen (allein schon vom Aufwand her) unmöglich erschiene.

Mit Arnolds Ausführungen berührten sich die Beiträge von Armin Schlechter (Heidelberg), der anhand von Sammlungsbeständen der Universitätsbibliothek Heidelberg nachzuweisen versuchte, daß digitalisierte Präsentationsformen bibliothekarisch fundierte Provenienzforschung nicht ersetzen könne, und von Michael Reisser (Redaktion »Buch und Bibliothek«, Reutlingen). Während Reisser - den Zauber des individualitätsstiftenden Bücherlesens mit Bildern aus dem Hollywood-Filmremake »City of Angels« beschwörend - weitere Gründe gegen die Überbewertung der dem gängigen »Informationsparadigma« verpflichteten »virtuellen Bibliothek« anführte (ungeklärte Copyright-Problematik, Fälschungsanfälligkeit, ungewisse Zukunft in bezug auf die Haltbarkeit und Kompatibilität elektronischer Speicher usw.), lieferte Schlechter mehr oder weniger unfreiwillig den Beweis, daß auch die traditionelle Bibliotheks- und Archivarbeit nicht frei von Kardinalfehlern war (und ist), eben etwa hinsichtlich leichtfertig zerstörter Provenienzzusammenhänge bei der Verwaltung von Sammlungsbeständen.

Für das ›alte Medium‹ Buch plädierten zudem die Vertreter des Verlags- und Editionswesens. Vittorio Klostermann (Frankfurt am Main) erläuterte die verlagsökonomischen Unabwägbarbeiten von Online-Publikationen, wobei er nur am Rand auf die neue Möglichkeit des »publishing on demand« reagierte, von der sich auffälligerweise auch kleinere Verlage (wie etwa »Ästhetik und Kommunikation« in Berlin) verbesserte Überlebenschancen ausrechnen. Daß HTML (Hypertext Markup Language) und SGML (Standard Generalized Markup Langu-Zur vorigen Seite [2/ S. 308:] Zur nächsten Seiteage) ungeeignet für die editorische Typographie seien, konstatierte der Heidelberger Kafka- und Kleist-Herausgeber Roland Reuß. Er ›kanonisiere‹ die (auch dem optischen Auffassungsvermögen und bewährten Mnemotechniken am besten entgegenkommende) Buchform, wobei er allerdings nicht davon ausging, daß Originale im ›auratischen‹ Raum nur »konserviert« werden, sondern darüber hinausgehend in der Gestalt von Faksimiles geradezu »disloziert« werden sollten, was schließlich auch dem Materialschutz förderlich wäre. Schwieriger auf den Punkt zu bringen ist dagegen der Vortrag des Bielefelder Soziologen Gerhard Wagner, der Vielbelesenheit im Bereich modernerer Theoriediskussionen aufwies, aber letztlich auffallend ›konservative‹ Schlüsse zog: Der »Vielfalt der Texte« könne die »Einfalt des Hypertextes« nicht gerecht werden; Bücher und Bibliotheken reichten aus, um einer sich immer komplexer gerierenden Welt zu begegnen. Dem Hyperlink entspräche auf dem Papier die Fußnote.

Daß »Virtualität« kein neues Problem darstelle, bilanzierte Wolfgang Ernst (Kunsthochschule für Medien, Köln) mit dem einschneidenden Versuch, die Problemstellungen der Informatik bereits im 19. Jahrhundert zu orten. Seine These verdeutlichte Ernst unter anderem an den Ideen von Hans Freiherr von und zu Aufseß (1801-1872), der mit dem Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg gleichsam die Schaffung eines ›virtuellen‹ Verbundes intendierte (Beschreibung der verstreuten nationalen Kulturgüter in einer Art Generalrepertorium). Die ideologischen Implikationen dieses nationalpolitischen Tuns würden aufzeigen, daß Bibliotheken, Archiven und Museen eine - im weitesten Sinn verstandene - ideologiekritische Selbstreflexion nicht erspart bleiben könne, wobei unter der ›medienarchäologischen‹ Prämisse, daß »Kultur« gleichbedeutend mit der »Funktion ihrer Speicher« sei, keine Opposition zwischen ›realer‹ und ›virtueller‹ Instanz anzusetzen wäre. Relativierend wies Leonhard in diesem Zusammenhang darauf hin, daß das Virtualitäts-Problem bereits in den Franziskaner-Bibliotheken des 13. Jahrhunderts virulent gewesen sei, was er in seinem öffentlichen Vortrag am Abend des ersten Tagungstages zum Thema »Gestalt und Zeit: Bibliotheken, Archive und Museen im Wandel der Kultur- und Kommunikationsgeschichte« gewissermaßen ergänzte, indem er die frühneuzeitlichen Flugschriften als Vorläufer des InternetZur vorigen Seite [2/ S. 309:] bezeichnete. Den Zusammenhängen in der Aufbaulogik von Bibliotheksstrukturen und einer Maschine, die sich Computer nennt, ging zum Symposionsausklang in einem hochgradig ›technischen‹ Referat Peter Berz (Humboldt-Universität, Berlin) nach.

Bleibt der Hinweis auf die Ausführungen von Graham Jefcoate (London) nachzutragen, der in seiner Darstellung der durch ihn vertretenen British Library mitunter etwas von der oben angesprochenen ›ideologiekritischen Selbstreflexion‹ vermissen ließ, dafür aber im selbstverständlichen und gelassenen Rückgriff auf den angelsächsischen (und amerikanischen) Pragmatismus punkten konnte. Er bestritt die Auflösung der traditionellen Bibliothek durch virtuelle Systeme und schlug vor, das bisherige Aufgaben-Spektrum (unter anderem Bewahrung und Zugänglichmachung) selbstbewußt durch neue Dienstleistungsangebote im EDV-Bereich zu erweitern. Eine »kritische Masse« medial transformierter Texte könne sowohl aus dem eigenen Haus als auch über kommerziell orientierte Vermittlerfirmen angeboten werden, sei es in digitalisierter, mikroverfilmter oder -verfichter Form. So jedenfalls handle die in ihrem Neubau nahe St. Pancras Station außerordentlich ›gut ausgelastete‹ British Library, die sich dabei - sogar unter Verzicht auf eine ursprünglich geplante jährliche Benutzungsgebühr - auf die im Frühjahr 1998 veröffentlichte Untersuchung »Initiative for Access« stützen könne; Patentrezept deshalb: die hybride Lösung, d. h. die Vorteile des Nebeneinanders von alten und neuen Medien zu nutzen.

Daß diese pragmatische Anschauung im Spannungsgefüge der kontroversen Positionen und Ansätze nicht ohne Widerspruch blieb, liegt auf der Hand. Demgemäß mußte auch der Moderator der Schlußdiskussion, Joachim-Felix Leonhard, resümierend feststellen, daß die aufgeworfenen und von verschiedenen Antagonismen geprägten Fragen (Zentralität vs. Dezentralität; Ort vs. Nicht-Ort; Einfalt vs. Vielfalt; Original vs. Kopie; Authentizität vs. Nicht-Authentizität usw.; und ergänzend freilich: Theorie vs. Praxis) noch keineswegs beantwortet seien. Daß das Wolfenbütteler Symposion in bezug auf weiterführende Antwortversuche wichtige Anregungen bot, war gewiß ein Verdienst, vor allem aber auch, den Dialog zwischen den opponierenden Lagern ermöglicht und beschleunigt zu haben, ein wichtiger Sachverhalt, der zudem verhindern könnte, in Zukunft, wie es noch in Wolfenbüttel geschah, aufgrund unscharf umrissener oder unterschiedlich eingesetzter Terminologie mitunter aneinander vorbeizureden. Die komplexen Einzelbeiträge werden im bzw. ab dem Herbst 1999 in den »Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte« zugänglich gemacht.

Volker Kaukoreit

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Volker Kaukoreit
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