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Mirjana Stancic: Ausgewählte Briefe an Manès Sperber (11. 01. 2002). In: Sichtungen online, PURL: http://purl.org/sichtungen/stancic-m-2a.html ([aktuelles Datum]). - Auch in: Sichtungen 3 (2000), S. 13-55.

Mirjana Stancic
Ruhr Universität Bochum
Institut für Deutschlandforschung
D-44780 Bochum
Adressinformation zuletzt aktualisiert: 2000

Ausgewählte Briefe an Manès Sperber

Mirjana Stancic


Abb. 1: Manès Sperber (l.) und Wolfgang Kraus (vgl. S. 37f.) in der ersten Hälfte der sechziger Jahre [Foto: Otto Breicha. Österreichisches Literaturarchiv]. In: Sichtungen 3, S. 12

Abb. 1.
Manès Sperber (l.) und Wolfgang Kraus (vgl. S. 37f.) in der ersten Hälfte der sechziger Jahre
Foto: Otto Breicha
Österreichisches Literaturarchiv
[3/ S. 12]

[3/ S. 13:] Im Nachlaß des Schriftstellers Manès Sperber (Zablotow, Ostgalizien 12. Dezember 1905 - Paris 5. Februar 1984) belaufen sich die Korrespondenzen auf tausende Stücke. Nichts charakterisiert die Bandbreite der Wirkungskreise Sperbers treffender als dieser epistolarische Hinweis: Ein engagierter Intellektueller kommt in den Konvoluten zum Vorschein, der als Briefschreiber und -empfänger unterschiedlichste Facetten seiner Persönlichkeit ausdrückt. Die hier getroffene Auswahl ist weder repräsentativ, noch folgt der Abdruck einem textkritischen Kriterium. Sie versucht lediglich, die Subtilität der brieflichen Mitteilung und das Fluidum der intimen Aussage zu vermitteln, die in einem flüchtigen Augenblick die Gegenwärtigkeit und die Suggestivität des Schreibaktes wiederherzustellen vermag. Zu Wort kommen gleichermaßen die Urheber von künstlerischen und intellektuellen Projekten, an denen sich Sperber maßgeblich beteiligte, sowie Menschen, die ihm freundschaftlich zugetan waren. Nicht nur prominente Briefschreiber sind in dieser Auswahl vertreten, Intellektuelle und Künstler, sondern auch Menschen, denen im Welttheater nicht unbedingt die Hauptrollen zuteil wurden.

Vor allem aber treten Sperbers österreichische und deutsche Freunde als Briefschreiber hervor, die mit ihm ein ähnliches Schicksal teilten: Die Erfahrung des Holocaust, des Exils, nicht zuletzt der Heimatlosigkeit. Manch einer war wie Sperber selbst der kommunistischen Idee verpflichtet, um sich später von ihr zu lösen. Genauso wie der ehemalige Schüler Alfred Adlers und junge Psychologe konnten einige unter ihnen in der Fremde Fuß fassen, den Schmerz über die Vertreibung aus ihrer Heimat überwanden sie jedoch nie. Wien und Berlin blieben die Wunden, die nicht schließen wollten. Allen voran heben Paul Elbogen und Leiser Zerwanitzer den Vorhang vor dem bunt-faszinierenden Reichtum der Lebenswelten des längst untergegangenen Vielvölkerstaates, der sein immenses Kulturpotential nur bruchstückhaft ins [3/ S. 14:] 20. Jahrhundert retten konnte. Nicht zuletzt die Vertreibung mancher der hier vertretenen Briefschreiber führte zu einer unausweichlichen, nicht wiedergutzumachenden Provinzialisierung des modernen Österreich und Deutschland. So durchzieht die lyrische Kantilene des Verlustes den wesentlichen Teil der abgedruckten Briefe, den melancholisch-solipsistischen Charakter dieser Gattung unterstreichend.

Die Textwiedergabe ist buchstabengetreu. Orthographische Eigentümlichkeiten wurden beibehalten. Der Kommentar beschränkt sich auf das Notwendigste. Stellenweise konnten die präzisen Lebensdaten von erwähnten Personen nicht ermittelt werden. Die Briefe werden mit ausdrücklicher Genehmigung der Autorinnen und Autoren bzw. der Nachlassenschaftsverwalter publiziert. In einigen Fällen war es trotz intensiver Recherchen nicht möglich, die urheberrechtliche Lage zu eruieren. Nachdem alle Mittel ausgeschöpft worden waren, wollten wir die Briefe der Öffentlichkeit nicht vorenthalten. Die Urheber oder deren Rechtsnachfolger werden gebeten, sich beim Verlag zu melden. Die Reihenfolge der Briefe ist alphabetisch nach den Autorennamen. Die als Endnoten ausgewiesenen Anmerkungen sind Kommentare der Herausgeberin.

Ausgewählte Briefe


Milan Dubrovic[1]

21. 5. 1982

Lieber Herr Sperber

Dass ich Ihnen so verspätet für Ihre freundliche Antwort vom 22. 4. 82 danke, hat damit zu tun, dass mich in der Zwischenzeit meine Gallenblase heftig attackiert hat, mit darauffolgendem Spitalsaufenthalt etc. Jetzt bin ich auf eine schmähliche Diät gesetzt und finde mich zwischen halluzinativen Bedrängnissen von Schweinsbraten mit Kümmel und Knoblauch, Mohnnudeln und Krautfleckerln schwer hindurch. Mit Bibiana Amon[2] habe ich bisher Pech, ich danke Ihnen jedenfalls für die Strapazierung Ihres Erinnerungsvermögens, wenn’s auch vergeblich war.

Wirklich würde ich mich sehr freuen, wenn ich Sie in Wien einmal ausführlicher sprechen könnte, wir wohnen ganz nah vom einstigen Cafe Herrenhof am Minoritenplatz Ecke Landhausgasse mit Blick auf eine der schönsten Wiener Örtlichkeiten. Vielleicht lockt Sie das ein bisserl. Aber wie erfahr’ ich’s?

Mit herzlichen Grüßen und den besten Empfehlungen an Ihre werte Frau

Ihr Milan Dubrovic

ANMERKUNGEN

1] Milan Dubrovic (Wien 26. November 1903 - Wien 11. September 1994), studierte Kunstgeschichte und Soziologie, von 1927 bis 1930 Kulturredakteur der »Wiener Allgemeinen Zeitung«, danach bis 1945 beim »Neuen Wiener Tagblatt«, Mitbegründer und Chefredakteur der Tageszeitung »Die Presse«, von 1953 bis 1970 Kultur- und Presseattaché an der österreichischen Botschaft in Bonn, von 1970 bis 1977 Herausgeber der »Wochenpresse«, dann als freier Schriftsteller tätig.

2] Dubrovic erhoffte sich von Manès Sperber nähere Informationen über sie, er porträtiert Bibiana Amon in seinem Brief an Sperber vom 10. März 1982 als »eine ›Entdeckung‹ Peter Altenbergs, war später mit einigen Künstlern und Literaten verbandelt, u. a. mit Gustav Meyrink und Anton Kuh.«


[3/ S. 16:]

Paul Elbogen[1]

5. Dezember 1982

Sehr geehrter Herr Sperber,

Folgendes hat sich ereignet: vor drei Jahren, als meine Frau und ich bei unserer alten Freundin Else Eckersberg,[2] der berühmten Schauspielerin Reinhardts und deren Gatten Graf Paul York-Wartenburg,[3] in ihrem Haus bei Passau eingeladen waren, nannte Else uns Ihren Namen. Sie hatte Ihren grossen Roman begeistert gelesen (›Traene im Ozean‹). Wozu Sie wissen muessen, dass die Beiden, er Protestant[*] katholischer Renegat, sie Katholikin, fanatische Juden-Freunde sind. Wohl veranlasst durch ihre fuerchterlichen Erlebnisse in der Nazizeit (Er in Sachsenhausen - schwer belastet, da sein Bruder Peter einer der hunderten, mit Klavierdraehten garottierten Stauffenberg-Verschwoerer war. Else war jahrelang in grauenvollen Gefaengnissen, wo man sie u. a. nicht schlafen liess (Sie hat heute noch einen schweren »Laermkomplex«). ausserdem aber sind Beide tief glaeubige Christen, in einem beinahe mittelalterlichen Sinne und glauben daher an das den Juden von Gott versprochene Land - und Israel als Staat. (Ich huetete mich naturgemaess, meine damit, seit meiner Knabenzeit, nicht konkordierende Meinung zu aeussern, davon spaeter.) ...

Vor Wochen sandte mir der gute Herr Mayrhuber aus »unserer zweiten Heimat« Altaussee ein Farbphoto, auf dem Sie und ein anderer aelterer eleganter Herr abgebildet waren. In letzterem erkannte ich keineswegs den uns vor mehr als 30 Jahren in Hollywood - wo wir, horribile dictu, 20 Jahre lebten und robotteten - bekannten, klugen, netten und liebenswerten jungen Mann, der erstaunlicherweise schon damals manche Erfolge hatte. (Ich bat Mayrhuber um dessen Adresse, bekam sie aber nicht bisher.)

Fast zugleichzugleich sandte mir eine Verwandte meiner (christlichen) Frau aus Wien, Ihre Selbstbiographie (»da Ihr doch Manches aehnlich wie der Autor erlebt habt«), und ich las das Buch in einem Tag.

Bevor ich darueber spreche, muss ich Ihnen kurz andeuten, dass ich aus einer »grossbuergerlichen« juedischen Wiener Familie stamme. Mein Vater[4] fand es fuer »unsere Karriere« (?) wichtig, uns als Kinder taufen und im Schottengymnasium bei den Benediktinern aufziehen zu lassen. Mein Vater, sehr beruehmter Strafanwalt und - wie ich einmal schrieb - »Renaissancemensch der zweiten Renaissance« von 1880, exzellenter Pianist, ueberaus gebildet auf vielen Gebieten, letz- [3/ S. 17:] ter Erschliesser der Ostalpen - und Frauenkonsument, war ebenso materialistisch und »entjudet« wie meine liebenswuerdige Mutter, die eine Art »Socialite« war. Ich begann mich ernstlich mit Judentum buchstaeblich erst zu bescha[e]ftigen, als sich die braune Dreck-Tsunami[5] naeherte. Lassen Sie mich nur noch andeuten, dass ich, als »Meschumad«,[6] niemals als Jude fuehlte, ja - beeinflusst durch den in meiner Jugend allbeeinflussenden Karl Kraus - dessen Gegnerschaft gegen das juedische Buergertum teilte. (Ich schaetze ihn heute, nach 50 Jahren haargenau so ein, wie er objektiv gesehen werden muss: ein wichtiger und bedeutender Pamphletist und Satiriker, trotz Allem provinziell[**], besser gesagt, behaftet mit »Campanilaggio«, und seinen Campanile fuer den Mittelpunkt der Welt ansehend. Auch vergessen seine heutigen geblendeten Anhaenger, dass er - siehe Willy Haas[***][7] - Antidreyfusard war und viel weniger Genies entdeckte und propagierte als verwarf: Hofmannsthal, Schnitzler, Freud, Reinhardt, Shaw, Bahr in infinitum hielt er fuer »Macher«, ebenso Richard Strauss.) Passons.

Ich habe in diesem letzten Jahr - eines der schwierigsten unseres Lebens, aus Krankheitsgruenden, - drei Selbstbiographien gelesen: Zug[!]mayers,[8] Ernst Fischers und die Ihre.[9] Die »Konkurrenz« war also gross, da mich Zug[!]mayer durch die Parallelitaet zu meiner Lebenslinie tief bewegte und Fischer durch die monumentale Doppelenttäuschung seiner Ideologie. Sehr zum Unterschied von Ihnen, war Fischer verdammt, im wahrsten Sinne »zwischen den beiden Stuehlen« im Leeren zu enden. Wobei ich auch noch hinzufuegen muss, dass ich seit eh und je ein Homo non politicus bin, alle Politik mir fremd ist wie Gene-forschung oder elektronische »Fortschritte«. Auch wenn ich naturgemaess erkenne, dass in unserer Unzeit jeder Mensch die Pflicht hat, politisch informiert zu sein. Wir haben in vielen Laendern lange gelebt und vier Kontinente ausfuehrlich bereist, ich duerfte einer der wenigen Menschen sein, der den »Vorzug« hatte, zwangsweise in vier faschistischen Laendern gelebt zu haben. (Oest[erreich], Deutschland, Italien, Frankreich).

Ihre Selbstbiographie ist von der ersten Seite an fuer mich von groe[sst]er Faszination gewesen. Das Meiste beruehrte mich schon deshalb hoechst persoenlich, weil wir in Paris und Toulouse lebten und zweimal in grauslichen französischen Lagern waren (das erstemal ich allein fuenf schreckliche Monate in Mesley du Maine, das zweitemal mit Frau in einem eisigen Loch, Récébédou nahe bei Toulouse.) Vieles andere tangiert unsere Erlebnisse, auch wenn die Ihren - schon wegen Ihrer politischen Einstellung, Ihres politischen Interesses - anders »gelagert« waren. Ich moechte schon hier sagen, dass mich eigentlich angesichts Ihrer ueberwaeltigenden geistigen [3/ S. 18:] Faehigkeiten (von der hohen Begabung zu schweigen) nichts mehr wundert, als dass Sie so lange bei der »roten Fahne« blieben. Denn wir, eine kleine Gruppe junger Schriftsteller und Intellektueller im Cafe Central (später Herrenhof) jubelten 1917/18 zwar dem aus Moskau heranblasenden funkelnagelneuen Sturm zu, kehrten aber nach ganz kurzer Zeit enttaeuscht und abgestossen wieder in unsere »bourgeoise« liberale Athmosphaere [sic] zurueck. Aber ich weiss - ganz tief in Ihrem Charakter - viel tiefer gelagert als in meinem - lebte (und lebt) die tausende Jahre alte Auflehnung gegen alle Unterdrueckung, die Revolution als l’art pour l’art, sozusagen. Ich verstehe das, auch wenn ich es nur dann und wann mitfuehlen kann. In diesem Zusammenhang war das anfangs genannte Erlebnis: Graf Paul York aeusserst belehrend und verblueffend. Wir lebten drei Tage in einer Welt, in der wirklich und wahrhaftig der Hausherr sagen konnte, die franzoesische Revolution waere ein Unglueck der Welt gewesen und Aehnliches. Ich versuchte vorsichtig, dagegen allerlei schluessige Gruende vorzubringen, aber gab es bald auf ... Wenn ich »beckmesserisch« von zu vielen Einzelheiten Ihres Lebens mit und unter Kommunistischen Organisationen absehe, enthaelt Ihr Buch nur Schoenheiten, Spannung, menschliche Anziehungen. Lassen Sie mich einen Aphorismus aus meiner jugendlichen »Aphorismenepoche« zitieren: »Literarische Begabung beruht auf groesserer Ein- und Ausdrucksfaehigkeit«, was eine Simplifikation war. Aber Sie haben eben Beides und zwar im hoechsten Grade. Immer von Neuem war ich tief erschuettert, nahm an Allem innigst teil, fuehlte mit dem Autor auch dort mit, wo er mir fremd war. Ich bewunderte eigentlich ALLES; vor allem andern Ihre Freundschaft mit Malraux, Ihre Faehigkeit Gide nahezukommen, ja auf Franzoesisch Ihre Werke zu schreiben. Allerdings waren Sie juenger als ich und sind es. Ich beherrsche Englisch, koennte aber niemals »Fiction« oder Serioeses auf Englisch schreiben, obgleich wir seit 1941 hier leben. Ich bewunderte auch die auesserordentliche [sic] Finesse, mit der Sie die noch immer gespannten wenn auch verduennten Faeden zu Ihrer Kindheit »im Staedtl« behandeln - zumal ich manche Autoren von aehnlicher Abstammung kenne: von Asch (auch dessen - (verschwundenen?) Sohn Nathan ???) bis zu dem wunderbaren Roth, von Perez bis zu meinem Liebling Singer. SIE sind ebenso Wienerisch wie »Weltbuerger«, ebenso blitzgescheit wie neuartig und human - wie traurig, dass ich hier am (herrlichen) »Ende der Welt«, seit Jahrzehnten nichts von Ihnen und Ihrem Werk wusste. Dessen Probe mich nun so entzueckte.

Lassen Sie mich nur noch hinzufuegen, dass Kisch ein Freund meines Bruders Franzl (des »dicken Elbogen«, Bergwerksbesitzer und Saen- [3/ S. 19:] ger eigener (köstlicher) Chansons in der Reissbar) war und ein »Penchant«[10] fuer mich hatte, warum weiss ich nicht. Ich erinnere mich, dass er mich, als ich vorbeiging, an seinen Caféhaustisch eines Cafés auf dem Blvd St Germain zog und mir Vorwuerfe machte, dass ich fuer Schwarzschild und sein Magazin[11] arbeite statt »fuers Ganze« naemlich die Kommunisten. Meine Beitraege waren schon in Berlin ausschliesslich gegen die Nazis gerichtet - wie denn nicht -, auch bei Ossietzky, dem Ungluecklichen. Wussten Sie, dass Kisch am ganzen Koerper taetowiert gewesen sein soll? Wuerde zu diesem koestlichen Cafehaus-›macho‹ passen.

Nun aber endlich Schluss. Ich begruesse Sie ueber den Ozean aufs Innigste und sagen Sie dem nun so beruehmten Manfred Inger, er solle mir einmal schreiben. Bitte.

Ihr Paul Elbogen

[Hs. Zusatz:]

Jüngst blätterte ich in Malrauxs »Museum«,[12] seit langem wieder einmal genial - kein Zweifel. Leider ebenso kunst-snobistisch, besessen von jahrhunderte Jahre alter Bonmot-passion seines Volkes und nicht immer überzeugend.

[Ms. Zusatz:]

Ich vergass oder uebersah einige Worte der Erklaerung (siehe Ende des ersten Absatzes auf Seite eins dieses Briefes) fuer meine urspruengliche Anti-Stellung zum Zionismus beizufuegen.

Ich verfolgte die Bewegung seit Jugendzeit, zumal a) mein Vater ein guter Bekannter Herzls war b) ich Herzls Tochter kannte (exzentrisch und naerrisch), und eine ganz nahe Verwandte (Nichte?) Frieda Czopp (lesbisch) eine gute Freundin von mir war, bevor sie, als die Nazis kamen[,] von ihnen vergiftet wurde. c) Ich zwei Jahre in einer Maehrischen Stadt Ungarisch Hradisch lebte, wo alle Juden zionistisch waren und ich als »Assimilant« sozusagen »verfehmt« und belaechelt wurde.

Bei aller endlosen Bewunderung fuer die gewaltigen Erfolge der Einwanderer in Israel, und der ganz natuerlichen Umkehrung meiner Gegenposition, als sich Millionen vor dem braunen Dschinghis Khan dadurch retten konnten, muss ich doch bei mir selbst mich immer wieder Manches fragen, was als Trockenrueckstand uebriggeblieben ist: Ist ein nicht Thora und den Talmud glaubender Jude noch immer ein Jude? Wodurch also, ausser durch Religion und Kult, haengt ein in Brasilien »gelebt habender« Jude der dritten Generation mit einem in Yemen zusammen? Da doch nur die Nazi-Ideologie an eine [3/ S. 20:] »juedische Rasse« glaubte. Gerade hier in San Francisco wurde mir all das so klar vor Augen gefuehrt, da es hier etwa Chinesen, Philippinos oder Japaner (besonders auch auf den vier hawaischen Inseln, die wir bereisten) zu Zehntausenden gibt, die keine Ahnung mehr von ihrem originalen »Kulturgut« haben, sondern nur Amerikaner sind. Natuerlich faellt hier das religiöse Element fort - aber ebenso wie bei irreligioesen Juden. Ich habe hier haeufig mit Chinesen gesprochen, die niemals den Namen Lao Tse oder Liae Dse gehoert haben, mit Japanern, die nichts vom Shinto Kult noch weniger vom Buddhismus ahnen, nie in Japan waren, ja nicht einmal wissen, wie die Inseln heissen etc. Warum sollen also gerade nur Juden die oftgeruehmte uralte Tradition behalten haben? Bitte mir nicht böse zu sein, dass ich alle diese »Einwaende« gerade Ihnen vorbringe. Aber sie wurden wieder bei Lektuere Ihres wunderbaren Werkes laut, da Sie[,] wenn ich nicht irre, einmal von »juedischer Nation« oder aehnlichem sprechen. Es ist ohne Zweifel eine Nation - aber eine Israelische, die nur vage und verschwommen mit der grossen Kultur des 3000 Jahre alten Judentums zusammenhaengt - wenn wir von den Bewohnern des orthodoxen hassidischen Viertels absehen - die mir in mancher Hinsicht spirituell naeher stehen als alle anderen.

[Hs. Zusatz:]

Zur Legitimation meines obigen »Kommentars« zu Malraux’ kunsthistorischem Werk: Ich habe bei Strygowsky[13] und Dvorzák[14] Kunst studiert und bin seit der Knabenzeit mit allen Künsten, auch entlegenen, innigst vertraut. Habe Zahlloses darüber publiziert, vor Allem über »Kitsch« und den Begriff des Epigonen (Ist z. B. Jordaens ein Epigone Ruben’s? Mahler einer Bruckners? de Gelder einer Rembrandts? Trennung von »Schüler« und »Epigone«.)

*] preußischer Grandseigneur, ebenso gescheit, kultiviert wie scheuklappig

**] (oder wie Sie es so treffend nennen: »provinzialisiert«)

***] der es mir in Hamburg mitteilte

ANMERKUNGEN

1] Paul Elbogen (Ps. Paul Schotte, Wien 11. November 1894 - Kanada 10. Juni 1987), studierte Kunstgeschichte und Jura in Wien, übersiedelte 1929 nach Berlin, emigrierte 1935 nach Italien und gelangte über Großbritannien, Österreich und Frankreich 1941 in die USA, Romanschriftsteller, Essayist und Herausgeber von weitverbreiteten Anthologien (»Geliebter Sohn: Elternbriefe an berühmte Deutsche«, 1930; »Lieber Vater: Briefe berühmter Deutscher an ihre Väter«, 1931; »Liebste Mutter: Briefe berühmter Deutscher an ihre [3/ S. 21:] Mütter«, Berlin 1929, 1942) und Zeitschriften.

2] Später Gräfin Else Yorck von Wartenburg (1895-1989), Schauspielerin an Max Reinhardts Berliner Bühnen, heiratete 1940 Paul Graf Yorck von Wartenburg.

3] Paul Graf Yorck von Wartenburg (geb. Klein-Oels, Schlesien 26. Januar 1902), studierte Rechtswissenschaft und Philosophie, war zunächst Land- und Forstwirt, leistete im Zweiten Weltkrieg politischen Widerstand. Später im evangelischen Hilfswerk und der kirchlichen Flüchtlingshilfe tätig, von 1953 bis 1966 im diplomatischen Dienst, veröffentlichte 1971 das autobiographische Werk »Besinnung und Entscheidung«, Bruder des Widerstandskämpfers Peter Graf Yorck von Wartenburg (1904-1944).

4] Friedrich Elbogen (Prag 20. Mai 1854 - Wien 15. April 1909), prominenter Strafverteidiger, trat u. a. in mehreren Anarchistenprozessen auf.

5] Tsunami (jap.): seismische Woge, plötzlich auftretende, durch Bewegungen (Seebeben) des Meeresbodens hervorgerufene Meereswelle im Pazifik, oft mit verheerenden Wirkungen für die Küste.

6] Meschúmed (jidd.): getaufter Jude.

7] Willy Haas (Prag 7. Juni 1891 - Hamburg 4. September 1973), Schriftsteller und Kritiker, emigrierte 1933 aus Deutschland nach Prag, 1939 nach Indien, Rückkehr nach Deutschland 1947, Theater- und Literaturkritiker der Tageszeitung »Die Welt«.

8] Carl Zuckmayer (Nackenheim 27. Dezember 1896 - Visp, Kt. Wallis 18. Januar 1977), deutscher Dramatiker, lebte von 1939 bis 1946 als Emigrant in den USA, von 1958 bis zu seinem Tod in der Schweiz.

9] Manès Sperbers »All das Vergangene« (1974-1977), Ernst Fischers »Erinnerungen und Reflexionen« (1969) und Carl Zuckmayers »Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft« (1966).

10] (fr.): Hang, Neigung, Liebe.

11] Leopold Schwarzschild (Frankfurt am Main 8. Dezember 1891 - Santa Margherita, Italien 2. Oktober 1950), deutscher Ökonom und Publizist, einer der Hauptvertreter der linksliberalen Publizistik der Weimarer Republik. Er entstammte einer alten jüdisch-orthodoxen Frankfurter Kaufmanns- und Gelehrtenfamilie. Zunächst schloß er die kaufmännische Ausbildung ab, studierte dann Geschichte und Volkswirtschaft. Seit 1920 gab er die Zeitschrift »Das Tagebuch« heraus, gründete 1923 mit Stefan Grossmann die Zeitung »Der Montag Morgen« und den »Tagebuch-Verlag«. Im März 1933 floh er nach Wien, im Sommer 1933 nach Paris, wo er vom Juli 1933 bis Mai 1940 »Das Neue Tage-Buch« in dem von einem holländischen Anwalt finanzierten Verlag »Société Nérlandaise d’Éditions« herausgab. Er war Mitbegründer des Bundes »Freie Presse und Literatur«, der Gegenorganisation zum »Schutzverband Deutscher Schriftsteller« (SDS). Er kritisierte die Moskauer Prozesse und verglich Stalin mit Hitler. Auf Anordnung des SDS sollte er als Agent Goebbels diffamiert und liquidiert werden: An der Unterschriftenaktion gegen ihn beteiligte sich neben anderen kommunistischen Schriftstellern auch Sperber. 1940 bekam Schwarz- [3/ S. 22:] schild durch Vermittlung des »Jewish Labour Committee« das Notvisum für die USA.

12] André Malraux (Paris 3. November 1901 - Créteil 23. November 1976), enger Freund Sperbers seit 1934, schrieb seit 1947 an seiner Psychologie der Kunst, die er 1953 abschloß. Als erster Teil erschien 1947 in Genf »La Musée imaginaire«. Obwohl das Gesamtprojekt bei den Kunsthistorikern auf Skepsis stieß, erlangte insbesondere der erste Teil, »Das imaginäre Museum« (dt. Übersetzung Hamburg: Rowohlt 1957; engl. Übersetzung »Museum without Walls«. New York 1949), weltweites Echo als Metapher für eine innovative Kunstkonzeption. Die Idee des »imaginären Museums« suggeriert einen selbständigen, von der Wirklichkeit gelösten virtuellen Raum, in dem sich die Kunst - dank ihrer Reproduzierbarkeit allen und überall zugänglich - nach eigenen Maßstäben entwickelt. Dieselbe Popularität trifft ebenfalls auf den vierten Teil des Projekts, »La Musée imaginaire de la sculpture mondiale«, zu, der 1953 beim Pariser Verlag Gallimard erschien.

13] Josef Strzygowski (Bielitz-Biala 7. März 1862 - Wien 2. Januar 1941), Kunsthistoriker, von 1909 bis 1933 Professor an der Universität Wien.

14] Max Dvorák (Raudnitz an der Elbe 24. Juni 1874 - Schloß Grusbach bei Znaim 8. Februar 1921), Kunsthistoriker, Hauptvertreter der Wiener Schule der Kunstgeschichte.


[3/ S. 23:]

Jürgen Fuchs[1]

29. 8. 80

Manès Sperber
83, rue Notre-Dame
75006 Paris

Lieber Manès Sperber,

über die Hälfte Ihres Buches »Wie eine Träne im Ozean« habe ich gelesen. Ich bin tief beeindruckt. Immer wieder sagte ich mir: so war es also, diese Argumente, und die Sprache der Partei, wie vertraut ... und der Wiederholungszwang des Nicht-Eingelösten. - In einem Ihrer Essays sprechen Sie von den »Holzwegen«, die junge Leute heute erneut einschlagen. Und die sich schon in vorangegangener Zeit als nicht gangbar erwiesen hätten. Sicher meinten Sie damit nicht den Versuch, den »Dornbusch erneut zu pflanzen« in menschlicher Verantwortlichkeit ... Sie meinten den Mangel an Geschichtskenntnis, das Ausmaß der Ignoranz bei uns Jüngeren (ob verordnet oder selbstverschuldet bleibt sich gleich, wenn der »Durchblick« dann fehlt.)

Gerade lese ich über den Hitler-Stalinpakt. Was haben wir denn an Fakten gewußt? Fast nichts; an der Schule, an der Universität wurde gelogen und verschwiegen. Ihnen gelingt es in der künstlerischen Vermittlung, die Gegenwärtigkeit dieser politischen, sozialen und auch ganz individuellen Konflikte zu vermitteln. Ich habe anderen Passagen vorgelesen, dann diskutierten wir stundenlang ... und in Briefen (wir schrieben »Leben in dieser Zeit« ab) aus der DDR wird bestätigt, wie nahe und hilfreich diese Art des Analysierens ist. Das Wort der »Ermutigung« fällt. Und es ist auch vergnüglich, die Szene auf dem Wiener Hauptbahnhof mitzuerleben. Da kommt dann ein Aufatmen, das Verkürzt-Fühlen, das Ducken wird nicht mehr als einzige Lebensmöglichkeit angesehen.

Und die Ereignisse in Polen.[2] Was wird werden? Was würde Stetten[3] sagen? Gelingt ein kleiner Schritt in die befreiende Richtung? Wir alle hoffen es sehr. Polnische Bekannte wie Zbigniew Herbert und Adam Zagajewski[4] - beide wohnen zur Zeit in Berlin - glauben an ein gutes Ende. Ist das rationaler Glaube? Als wir die Ereignisse in der Tschechoslowakei im Frühjahr 68 erlebten, ging auch so ein Aufatmen, ein Hoffen von den Reformen, den freien Diskussionen dort aus. Und wir sagten: Das können sie nicht tun. Und meinten die Sowjetunion mit [3/ S. 24:] ihrem Einmarsch. Sie konnten es tun. Sie haben es einfach getan. Und ich, wäre ich zufällig ein Jahr früher zur Armee eingezogen worden, ich wäre vielleicht einer von den jungen Deutschen gewesen, die erneut in ein Nachbarland einmarschierten. Hätte ich mich geweigert? Ich weiß es nicht. Eher nein.

Und als der Genosse sich nach Paris durchgeschlagen hatte, aus einem sibirischen Lager kommend, glaubte ihm keiner ... so viele Namen konnte er auswendig.[5] Und die junge Frau dreht sich zur Wand, will nichts hören, kann nicht begreifen ... Diese irre Situation der Beziehungslosigkeit, der Unfähigkeit, Erfahrungen zu vermitteln, kennen wir auch. Ja, diese Gleichgültigkeit ist eine »Gewalt«, Sie haben völlig recht. Und sie hat viele Gründe.

Über eine Stelle mußte ich auch viel nachdenken, sie beunruhigt mich nach wie vor: Es geht um die Veröffentlichung von Berichten über die Lager: »Trifft eine Literatur jemals den Kern? Man überbietet sich in der Beschreibung der Grausamkeit, die der Feind an seinen Gefangenen übt ... Es fällt der Kunst besonders leicht, das Leiden darzustellen. Es scheint mir fraglich, ob das Leiden etwas für den beweist, der es erträgt, es scheint mir gewiß, daß es den nicht widerlegt, der es erzeugt ... Vielleicht überzeugt das Leiden den Liebenden, ich weiß es nicht. Den Gleichgültigen läßt es zuerst gleichgültig, dann stößt es ihn ab. Dem Feind beweist es, daß er richtig gezielt hat ...« Wenn ich an die »Vernehmungsprotokolle«[6] denke, an das unsichere, manchmal eisige Schweigen zu den Techniken der Geheimdienste, die ich in Ansätzen skizziert habe ... Und doch, das entnehme ich Ihrem Buch: Es muß gesagt werden. Und man kann nicht mit großen schnellen »Erfolgen« rechnen. »67 Personen haben es gelesen« sagt Dojno[7] zu Stetten, als sie über die Verbreitung ihres Buches sprechen. »Beide lachen herzhaft, sie waren nicht enttäuscht.« Aber das »Sirenengeheul, das den dritten Fliegeralarm ankündigte, unterbrach sie.« Oft habe ich in den letzten Monaten das Gefühl, keine Zeit mehr zu haben. Sie werden verstehen, was ich meine: Diese Kriegsdrohungen, das freche Einmarschieren der Sowjetunion - ihrer Soldaten - in ein anderes Land, die Atompläne, die spürbare Aggressivität der Menschen, auch in den Geschäften, auf den Straßen. Irre ich mich?[*] Ich habe keinen unmittelbaren Vergleich ... Ich gehe auch davon aus, daß keine »Triebe« diese Situation bestimmen. Und doch: »Es ist ja der Mensch / der den Menschen bedroht.«

Seit zwei Monaten arbeite ich in einer Psychologischen Beratungsstelle in Moabit. Die ganze Woche über Öffnungszeiten, jeder kann kommen, auch sonntags. Viel Elend, Suizid, Kriminalität, Rocker, Zuhälter, Depressionen, die manische Abwehr ... ich konzentriere [3/ S. 25:] mich auf die »Jugendarbeit«, versuche einige Wege auf den Ämtern zu glätten. Mit Jugendlichen aus anderen Ländern verstehe ich mich am besten. Zufall? Dokumentiere, spreche mit anderen Kollegen. Die technische Universität trägt diese Einrichtung. Ich bin gern dort, diese Hinterhöfe sind mir nicht fremd. Und lese A. Adler, und überlege, wie Sie es wohl gemacht haben Anfang der 30iger Jahre ...

Nach Paris können wir in den nächsten Wochen nicht kommen - wir wollten es, da ich einfach nicht abwesend sein kann in dieser Anfangsphase meiner Arbeit. Schade. Auch eine Einladung nach Amerika (Lyrikseminare) lehnte ich ab. Aber Lilo und Lili[8] drängen, sie wollen nicht immer in diesem Westberliner Getto hocken ...

herzliche Grüße,
auch von Lilo F an Sie,
Ihr
Jürgen Fuchs

*] [U]nd was hängt vom Einzelnen ab?

ANMERKUNGEN

1] Jürgen Fuchs (Reichenbach, Vogtland 19. Dezember 1950 - Berlin 9. Mai 1999), deutscher Schriftsteller. Nach dem Abitur absolvierte er eine Lehre bei der Reichsbahn, von 1969 bis 1971 Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee der DDR. Von 1971 bis 1975 studierte er Sozialpsychologie in Jena, war mit Wolf Biermann, Robert Havemann und Reiner Kunze befreundet. Nach Biermanns Ausbürgerung wurde er kurz vor der Abschlußprüfung wegen »Schädigung des Ansehens der Universität in der Öffentlichkeit« zwangsexmatrikuliert, es folgten Partei- und FDJ-Ausschluß. Von November 1976 bis August 1977 war Fuchs inhaftiert, anschließend wurde er nach Westberlin abgeschoben. Nach der Wende trat er als einer der konsequentesten Ankläger der SED-Diktatur hervor. Seine Tätigkeit bei der Berliner Gauck-Behörde, wo er an der Aufarbeitung der Stasi-Akten arbeitete, legte er aus Protest wegen Beschäftigung ehemaliger Stasi-Mitarbeiter nieder. Er wies als erster auf die Existenz einer sogenannten »Kerblochkarte« über Manès Sperber bei der Stasi-Behörde hin, die auf entsprechendes gesammeltes Material über den Schriftsteller schließen läßt. Die Erfahrungen mit der Behörde hat Fuchs im Roman »Magdalena« (Berlin 1998) literarisch verarbeitet. Über seine langjährige Freundschaft mit Sperber publizierte er u. a. den Aufsatz: Der Kampf um die Erinnerung. In: Manès Sperber als Europäer. Eine Ethik des Widerstands. Hg. von Stéphane Moses, Joachim Schlör und Julius H. Schoeps. Berlin: Hentrich 1996 (= Studien zur Geistesgeschichte 18), S. 178-194. [3/ S. 26:]

2] Die Aktionen des unabhängigen Gewerkschaftsbundes Solidarnosc, der Ende der 80er Jahre als wichtigste politische Kraft zur friedlichen Umgestaltung Polens zur Demokratie beigetragen hat.

3] Baron Erich von Stetten, Geschichtsprofessor an der Wiener Universität, ist einer der Protagonisten in Sperbers Romantrilogie »Wie eine Träne im Ozean« (1961 in deutscher Sprache erstveröffentlicht). Als akademischer Lehrer und väterlicher Freund des Helden, des jungen Wiener jüdischen Intellektuellen Denis (Dojno) Faber, mit dem er nach dem Anschluß nach Paris ins Exil ging, vertritt er ein humanistisches Weltbild der aufgeklärten, reinen Vernunft, die sich über nationale und enge historische Grenzen hinweggesetzt hat. Die Verflechtungen zwischen Moral und Politik, die er auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlichen Kombinationen erlebt, reduziert Stetten in seinen Analysen immer auf die ethische Motivation der Handlung. Die in der Sekundärliteratur verbreitete Meinung, Sperber habe Stetten nach dem Vorbild seines psychologischen Lehrers Alfred Adler modelliert, ist nur eingeschränkt vertretbar.

4] Zbigniew Herbert (geb. Lemberg 29. Oktober 1924), Adam Zagajewski (geb. Lemberg 21. Juni 1945), polnische Lyriker. Sie spiegeln in ihrer Poesie auch die politischen Umwälzungen in ihrer Heimat wider, die 68er-Studentenrevolte, die blutige Niederschlagung des Arbeiterstreiks in Danzig 1970 und die Demokratisierungsprozesse der 80er Jahre.

5] Anspielung auf den zweiten Teil der Romantrilogie Sperbers, »Tiefer als der Abgrund«, der von den im Pariser Exil lebenden Kommunisten handelt. Der »Genosse« heißt Milan Petrovitsch (vgl. Wie eine Träne im Ozean. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1993, S. 593ff.).

6] Fuchs’ autobiographische Dokumentation der Vernehmung durch die DDR-Geheimpolizei (1978), die auf die »Gedächtnisprotokolle« (1977) folgte.

7] Denis (Dojno) Faber, Hauptfigur in Sperbers Romantrilogie »Wie eine Träne im Ozean«, schreibt im Pariser Exil mit seinem Mentor, Professor Stetten, eine Studie über die modernen Kriege. Die Publikation erscheint im Frühjahr 1939 dank dem von Stetten geleisteten Vorschuß in der Reihe »Studien zur Soziologie«, bleibt jedoch ohne Widerhall. Der biographische Hintergrund ist deutlich zu erkennen: Auch Sperber schrieb im Exil sozialpsychologische Essays, »Zur Analyse der Tyrannis«, die ebenfalls 1939 beim Pariser Verlag »Science et Littérature« erschienen und wegen ihres antikommunistischen Inhalts ignoriert wurden.

8] Ehefrau und Tochter von Jürgen Fuchs.


[3/ S. 27:]

Gertrud Fussenegger[1]

im Dezember 77

Liebe und verehrte gnädige Frau Jenka Sperber,
lieber und hochgeehrter Manès Sperber,

Sie verzeihen, daß ich mit der Maschine schreibe, aber meine Handschrift ist schon seit Jahren unzumutbar.

Wir haben uns das letztemal in Wien gesehen und leider nur ganz kurz persönlich miteinander sprechen können. Lange Telephonate schlossen sich an; über ihren Inhalt, zu ihrem Inhalt werde ich in diesem Brief ausführlich schreiben.

Heute und augenblicklich nur so viel: von Klagenfurt erfolgte wieder eine Einladung, eine Aufforderung, bei der Jury für den Bachmann-Preis mitzuwirken. Ich habe zugesagt, vor allem weil ich hoffe, Sie beide wieder dort zu treffen.

Von Wien sind Sie nach Rom gefahren und haben dort ein Sperber-Symposion bestanden. Ich habe darüber Rühmendes in der Presse gelesen. Meine deutschen Freunde schicken mir auch immer wieder große Artikel über M. S. - eine halbe oder dreiviertel Zeitungsseite, gewaltiges Echo also. Die Zeit wird reif für Ihre Stimme, und: Wer noch Ohren hat zu hören, der hört.

Bei uns: alles munter, beschäftigt, einigermaßen vergnügt. Zu Weihnachten erwarten wir zwei Töchter mit ihren Familien. Danach sind wir einige Tage in Tirol. Und dann fängt - wie man sagt: so Gott will - wieder ein arbeitsreiches Jahr an.

Nun aber zu den Themen unserer Wiener Telephongespräche: In diesen Gesprächen haben Sie, lieber Manès Sperber, mir etliche Probleme geklärt, die mich nach der Lektüre Ihres letzten Buches »Bis man mir Scherben auf die Augen legt ...«[2] beschäftigt, ja, die mir zugesetzt haben. Ich bräuchte eigentlich auf diese Fragen nicht mehr zurückzukommen.

Aber da ich Ihrer Freundschaft sicher bin, möchte ich doch einiges sagen.

Dieses letzte Buch hat mir noch deutlicher als alle Ihre anderen Bücher (auf eher schmerzliche Weise) zu Bewußtsein gebracht, daß wir die Weltgeschichte, die sich in unserer Lebenszeit abspielte, auf so verschiedene Weise erlebt haben, als hätten wir uns auf verschiedenen Seiten eines Gestirns befunden. (Immerhin noch auf demselben Gestirn!)

[3/ S. 28:] Freilich: von allen Menschen, die auf der anderen Seite des Gestirns gelebt haben, sei es in einer ehemaligen »Feindnation«, sei es in der Emigration, im Exil, ist mir keiner untergekommen, der genauer gewußt hätte, wie es auf der ihm abgewandten, also unserer Seite ausgesehen hat - als Sie; der eine tiefere Einsicht gehabt hätte für die, die in Deutschland blieben und für die nie etwas anderes in Frage gekommen wäre als hierzubleiben, auf Gedeih oder Verderb. Sie, Manès Sperber, haben die Lage der Deutschen genauer durchschaut, und ich glaube, Sie wissen viel mehr von dieser Lage als die allermeisten, die sie am eigenen Leib verspürten.

Ich habe sehr viel über dieses Stück Geschichte nachgedacht, über die Vorkriegsgeschichte und über die Nachkriegszeit. Ich habe auch die Elemente zu analysieren versucht, die sich in meiner Person dazu verhielten. Manchmal hatte ich vor, daß alles aufzuschreiben als eine Art Rechenschaftsbericht. Aber er würde sehr unsensationell ausfallen, eine lange und langweilige Geschichte, die sich eher solipsistisch mit Innenschau als mit politischen Realitäten befaßte. Was also solls?

Mir kommt vor: das deutsche Volk befand sich schon seit 1917 (spätestens 1917) in einer Art Angstneurose. Man war daran den Krieg zu verlieren, verlor ihn auch, verfehlte aber dann auch die neue republikanische und demokratische Neuordnung, das neue Zu-Sich-Selbst-Kommen. Was waren die roaring twentys anderes als eine zwar kulturell kreative, doch für die Masse des Volkes eher fieber- also krankhaft aufgeheizte Phase, Schüttelfrost, Veitstanz, so sah es aus für die meisten, die zusahen - und ihre Angst stieg.

Dann: die Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit, Bürgerkrieg - denn anders konnte man damals die innenpolitischen Auseinandersetzungen nicht mehr nennen. Also noch mehr Beängstigung und Nicht-mehr-wissen-wohin. Ich glaube, der Vergleich stimmt: ein Häuflein Verirrter in Nebel und Schnee - und da kommt einer und behauptet im Brustton der Überzeugung, er wüßte wo hinaus und, man solle ihm nur folgen. Und obgleich einen gerade dieser Brustton der Überzeugung zur Vorsicht mahnen müßte und obgleich sich eigene Zweifel melden, - man sagt sich: einpaar [sic] Schritte kannst du ja mitgehen und zusehen, einmal kannst du es probieren, zur Umkehr ist immer noch Zeit. Und dann ist es schon passiert. Man hat sich ausgeliefert.

Und da waren ja auch wirklich erste Erfolge.

Sie haben darüber in Ihrem Buch geschrieben: nur von der anderen Seite aus gesehen: das Saarland etwa, die Abstimmung dort; und die Arbeitslosenzahlen sinken - oder werden als sinkend gemeldet. Und so scheint es denen, die so lange im Nebel und Schneetreiben herum- [3/ S. 29:] geirrt sind, es habe sich wirklich vor ihnen etwas wie eine Tür geöffnet, in eine passable Unterkunft, in eine rettende Hütte, und so tritt man ein und merkt es nicht, daß die Tür schon hinten zugefallen ist - und daß man sich in eine Räuberhöhle verirrt hat.

Man hat von Hitler das Ende des materiellen Elends erwartet - und dafür das moralische Elend eingetauscht.

Jeder erkannte das irgendwann einmal, der eine früher, der andere später. Jeder also für sich, isoliert.

Sie haben den Tatbestand ganz eindeutig schon 1933 am eigenen Leib bitterst erfahren.

Für andere war die Lage nicht so eindeutig oder wurde erst später eindeutig, die Informationen widersprachen einander. Man lebte wie in einem Dickicht, immer nur das Nächste vor Augen. So unmöglich es schien, zu Rohheit [sic] und Gewalttat ja zu sagen, es schien fast noch unmöglicher zu wünschen, daß das Regime von außen weggefegt und der Totalruin der Nation besiegelt würde. So blieb nur eine - inständige - Hoffnung übrig: Daß sich bessere Einsichten durchsetzen, daß eine für alle erträgliche Ordnung etabliert werden würde. Eine blinde, eine blöde idiotische Hoffnung.

Aber hinter ihr wirkte die Schubkraft eines mächtigen Triebes.

Ich sehe das so:

In der Nachkriegszeit schien es in Deutschland (und in Österreich noch viel länger) irgendwie aussichtslos, neues Leben gründen zu wollen. Neues Leben, das heißt doch für junge Menschen unabweisbar: eine Ehe schließen, Kinder haben; der in jedem normalen Menschen mächtige Nestbautrieb war durch die Verhältnisse lahmgelegt. Es galt besonders im Mittelstand für nahezu verrückt, eine Familie zu gründen. So staute sich ein Verlangen auf, das Hitler zugute kam. Und so verlogen der Optimismus war, den er propagierte: plötzlich wurde geheiratet, Kinder kamen zur Welt. Es war wie eine Epidemie, man konnte freundlicher sagen: ein Naturereignis. Geschäftigkeit der Natur ... mag sein, die allgemeine Propaganda tat das Ihre dazu. Andernteils gehörte der Drang zur Familie zu den allgemeinsten und unschuldigsten Motivationen des Menschen. Daß sie in diesem Falle dazu beitrug, die politische Moral zu ruinieren, scheint mir einen tragischen Aspekt zu liefern.

Dennoch waren es, glaube ich, nicht einmal so sehr die jungen Leute, die das N.S.-Regime unterstützten; es war - vermutlich doch - vor allem die ältere Generation, diejenigen also, die im ersten Weltkrieg gewesen waren und diesen Krieg verloren hatten - und die es nicht ertrugen, diesen Krieg verloren zu haben; jetzt, so mochte es manchen von ihnen scheinen, konnte er nachträglich noch korrigiert werden. [3/ S. 30:] (Und das erklärt auch den Umstand, daß, wenn es in Deutschland zwischen 1939 und dem Ende irgendwann einmal eine euphorische Stimmung gab, irgendetwas, was sich nur von ferne mit »Begeisterung« bezeichnen ließe, so war das absolut nicht beim Überfall auf Polen, geschweige denn etwa, wie es gegen Rußland losging, sondern nur im Mai und Juni 1940, als Frankreich fiel - und dabei war man keineswegs der Meinung, daß man dieses Land jemals behalten oder beherrschen könnte, man dachte auch nicht politisch und in die Zukunft, sondern nur retrospektiv - als Aufrechnung für die eigene verlorene Runde.)

In summa: So formierte sich die Katastrophe.

Lieber Manès Sperber, Sie schreiben ganz richtig in Ihrem Buch: Nach dem Ende 45 wollte in Deutschland niemand ein Nazi gewesen sein. Andere Emigranten haben das bei ihrer Rückkehr auch bemerkt und vielfach härter, schärfer, voll Verachtung formuliert.

Ich habe Sie in Wien auf diese Ihre Beobachtung angesprochen. Und Sie sagten mir: Die Deutschen fühlten sich damals durch die furchtbare Niederlage und deren Folgen schon genügend bestraft - und so lehnten sie es ab, die Schuld auf sich zu nehmen. Plötzlich wollte keiner es gewesen sein.

Das ist sicherlich richtig.

Trotzdem, so meine ich, könnten auch andere Gründe mitgespielt haben.

1. War der Nationalsozialismus ein sehr komplexes Phänomen, ein Sammelbecken für die verschiedensten Meinungen, Gesinnungen und Motive. Die allermeisten Menschen in Deutschland (und Österreich) waren zu irgendeiner Zeit aus irgendeinem Motiv mindestens augenblicksweise Parteigänger des Regimes. Zu viele Vorteile, auch solche sozialer, kulturpolitischer, technischer Natur waren von dieser Begegnung angeboten worden (dasselbe ist ja auch in den kommunistischen Ländern der Fall). Aber wenn viele auch nur für Augenblicke »schwach« geworden waren, so gab es doch auch massenhaft echte Parteigänger, wenn auch mit jeweils recht verschiedenen Beweggründen: der eine brachte seinen Antisemitismus ein, der andere (ganz anders geartete) seinen romantischen »Reichsgedanken«; der dritte - wie oben schon erwähnt - seinen Nestbautrieb, der vierte seine rabiate Tatkraft, die nach irgendeinem Betätigungsfeld verlangte; andere ihr tiefwurzelndes Mißtrauen gegen alles Moderne, also auch gegen moderne, lies demokratische Staatsformen, andere ihre Unfähigkeit der legalen oder sich als legal anbietenden Staatsmacht Böses zuzutrauen - und über allen diesen Motiven die oben beschriebene dumpfe Lebensangst: Wo soll es mit uns hinaus?

[3/ S. 31:] Nun, da der Spuk zu Ende war, der Zusammenbruch da, das höllische Jahr 45 - und als dann noch dazu die grauenhaften Nachrichten aus den Lagern eintrafen, da besann sich jeder Parteigänger nur seiner eigenen Motive; und keiner glaubte, daß sein Motiv das ausschlaggebende, das für das Unheil verantwortliche Motiv gewesen sei. Immer also hatten die anderen die Schuld.

Sogar die Antisemiten salvierten sich: man habe doch nur eine Beschneidung des jüdischen Einflusses angestrebt, aber an Ausrottung habe man nie gedacht.

Und so fand wohl jeder sein Privatwaschbecken, über dem er sich die Hände waschen konnte.

2. Wäre zu dem Umstand, daß »keiner ein Nazi sein wollte« noch zu sagen, daß der Nationalsozialismus - im Gegensatz etwa zum Sozialismus - doch nur eine sehr dürftige ideologische Basis entwickelt hatte. Hitlers »Mein Kampf« wurde kaum gelesen, es war, als H. zur Macht kam, ein altes, überholtes, ein langweilendes Buch. Man tat es gern als »Frühwerk« ab, als Zeugnis der Unreife, man nahm es nicht so genau damit. (Womit nimmt man es heute denn so genau?) - Rosenberg[3] galt selbst für Parteileute als »Spinner«. So war es jedenfalls in Süddeutschland. Hier war man doch so tief katholisch infiltriert, daß man die Lehre vom nordischen Edelmenschen eher für eine etwas lächerliche Marotte »derer nördlich des Mains« hielt.

Natürlich bediente sich die Propaganda eines bestimmten blonden und blauäugigen Leitbildes, aber das nahm man nicht so ernst, so wenig wie heute die Werbung und auf Titelseiten promulgierten Typen ernst genommen werden (sie gefallen mir auch nicht sehr!). Und überhaupt: dem Nationalsozialismus haftete noch der Geruch bayrischer Bierkeller an, was wollte der mit »elitärer Rasse«?

So argumentierte man. Die entsetzliche Ernsthaftigkeit dieser Wahnsinnslehre trat erst im Osten zutage. Überhaupt trat erst dort hervor, was sich im Kern verbarg; vorher war der Nationalsozialismus eine mitteleuropäische Tyrannis gewesen; dort enthüllte er sich als infernalische Despotie.

Was dort geschah, entglitt jeder Kontrolle. Der Schrecken wuchs ins Inkommensurable.

Da gab es bestimmt nur wenige, die nicht selbst, wenn vielleicht auch nur für Augenblicke, vor Entsetzen erstarrten.

Dann schlugen sie wieder um sich.

Am Ende wollte keiner der Täter gewesen sein.

Die Niederlage war bitter, das Elend - auch in Westdeutschland - nicht gering.

[3/ S. 32:] Aber ich denke oft, daß der miese Zustand, in dem sich heute die Bundesrepublik befindet, im Grunde damit zusammenhängt, daß sich in vielen das Gefühl einnistete, man sei zwar bestraft, aber vielleicht doch nicht genug bestraft worden; denn man fand sich nach etlichen Jahren schon wieder recht behaglich - und behaglicher als je zuvor - in hübschen Häusern, dicken Autos und, wohin man sich früher nicht einmal geträumt hätte, als Tourist in allen glänzenden Gegenden dieser Erde.

Da stellte sich dann das blöde, aber nicht ganz unrichtige (leider nicht ganz unrichtige) Wort ein: Nun haben wir den Krieg doch gewonnen. Es wurde mit einer Art Galgenhumor ausgesprochen, der nichts Gutes versprach. Der Wurm sitzt drin.

Ja, der Wurm sitzt drin. (Das ließe sich freilich von allem sagen.)

Man redete - vor allem in der Literatur - viel und lang von der »Bewältigung der Vergangenheit«. Nun, ich wüßte keine Möglichkeit, diese Vergangenheit zu bewältigen. (Vielleicht haben sie die am besten bewältigt, die sich in den ersten Maitagen 45 umbrachten.)

Solange wir leben, werden wir daran zu tragen, werden wir an diesen Wunden zu lecken haben. Dennoch werden wir mit unverheilten Wunden ins Grab gelegt werden. Nur aktuelles Leiden gibt etwas wie ein Recht, Vergangenes zu vergessen. Doch statt zu leiden haben wir genießen gelernt. (Der Wurm!)

Bei den Ostdeutschen lagen die Dinge anders. Sie haben lange und gründlich gelitten, sie haben die Suppe ausgelöffelt bis auf den Grund. Sie haben also »gebüßt«, aber so, daß sie wieder die eigenen Leute (und dann auch die Tschechen) in eine Räuberhöhle brachten, sie zur Unfreiheit verurteilten, zur Heuchelei erzogen ...

Wieviele Böden hat eigentlich der Topf der Geschichte?

In Österreich.

Ein Kapitel für sich.

Aber davon fange ich nicht an. Sonst wird der Brief noch einmal so lang.

Er ist ohnehin schon viel zu lang geworden.

Ich hoffe, er findet sie und Frau Jenka bei guter Gesundheit, und ich hoffe auch ein wenig, daß diese Epistel Sie nicht, sei es durch ihre Länge, sei es durch ihren Inhalt, allzu ungeduldig stimmt.

Löwe Alois grüßt mit mir.

Ich wünsche Ihnen ein gutes Fest und ein glückliches gesundes Neues Jahr.

Ihre
Gertrud Fussenegger-Dorn

[3/ S. 33:] ANMERKUNGEN

1] Gertrud Fussenegger (eigentl. Gertrud Dietz, geb. Pilsen 8. Mai 1912), österreichische Schriftstellerin, verbrachte die Kindheit in Böhmen, zog 1921 mit ihren Eltern nach Telfs in Tirol, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie in München und Innsbruck, Promotion 1934, begrüßte 1938 den Anschluß an das Deutsche Reich, distanzierte sich aber nach dem Krieg vom Nationalsozialismus; vgl. dazu ihre Autobiographie »Ein Spiegelbild mit Feuersäule« (1979). Seit den 40er Jahren schreibt sie Geschichts- und Zeitromane, Novellen, Erzählungen, Lyrik und Dramen.

2] Der letzte, dritte Teil der Autobiographie Sperbers, 1977 in Wien beim Europaverlag erschienen.

3] Alfred Rosenberg (Reval 12. Januar 1893 - Nürnberg 16. Oktober 1946, hingerichtet), deutscher Publizist und Politiker. Nachdem er 1919 der NSDAP beigetreten war, leitete er deren Parteiorgan, »Völkischer Beobachter«, ab 1925 als Chefredakteur. Er trat vehement gegen Judentum, Marxismus, Liberalismus und Demokratie ein.


[3/ S. 34:]

Arthur Koestler[1]

1st January, 1955

My dear Munio,

That was a wonderfully nostalgic letter. Unluckily I cannot answer on the same level as I am dictating this on New Year’s morning in the throes of a gigantic hangover. I spent Christmas in the country at Celia’s[2] and then Celia and her husband came back with me and stayed here until yesterday. Her health is still very precarious, but there is a good hope that she will pull through. In honour of Christmas I had a reconciliation with Alex[3] and am dining with them tonight. He has grown terribly fat, but apparently a little mellower.

The Aldington book[4] is not yet out in English. Is The Misery of Psychology[5] coming out in an English translation? In which case I would wait for it as I have a strong resistance reading essays in French.

I hope to have finished the volume of essays by the end of this month. It will either be called Picnic in Nomansland or The Trail of the Dinosaur[6] and everybody who has read it will rush to commit suicide. After that I am going to write my chef d’oeuvre, a biography of Johannes Kepler[7] which I have been planning to do for some twenty years and hope to finish before senility finally sets in.

Do me a favour. Get the stinking firm of Calmann-Lévy[8] to send me a copy of Simone de Beauvoir’s novel;[9] people say that there is a venomous portrait of me in it an vulgar curiosity prompts me to look it up.

Love to all and may the Lord have mercy upon us.
Yours,
Arthur

ANMERKUNGEN

1] Arthur Koestler (Budapest 5. September 1905 - London 3. März 1983) war einer der ältesten Freunde Manès Sperbers, den er bereits in Berlin Ende der 20er Jahre kennengelernt hatte. Die Freundschaft wurde während der Emigration in Paris vertieft, wo beide als junge Kommunisten von 1934/35 am Institut pour l’Etude du Fascisme (INFA), einer Gründung der Komintern, tätig waren. Über seinen Bruch mit der Kommunistischen Partei, den er um dieselbe Zeit wie Sperber vollzog, 1937/38, berichtet Koestler in seinem autobiographischen [3/ S. 35:] Werk »The Invisible Writing« (1954). Sein Roman »Darkness at Noon« (1940) war eine der ersten literarischen Aufdeckungen des Stalin-Terrors. Seit dem Ende der 40er Jahre arbeiteten Koestler und Sperber an der Planung des Kongresses für die Freiheit der Kultur zusammen, der sich für den Dialog mit den Intellektuellen im Osten während des Kalten Krieges einsetzte, und wurden von den französischen linken Intellektuellen als Exkommunisten angefeindet. Koestler widmete Sperber, den er meistens mit seinem Kosenamen »Munio« oder »Munju« anredete, seinen tiefenpsychologischen Roman »Arrival and Departure« (1943), und umgekehrt widmete Sperber seinen 1950 erschienenen Roman »Plus profond que l’Abime« (Paris: Calmann-Lévy) seinem Freund Koestler.

2] Celia Kirwan (später Goodmann), Zwillingsschwester von Koestlers zweiter Frau Mamaine Paget.

3] Alexander Weissberg-Cybulski (Krakau 1901-1964), Kommunist und Physiker, der sich nach seiner Verhaftung durch die sowjetische Geheimpolizei am 1. März 1937 in Charkow, wo er am Ukrainischen Physikalisch-Technischen Institut arbeitete, vom Kommunismus abwandte. Er wurde 1940 nach Deutschland ausgeliefert und interniert, 1941 entlassen, lebte dann im Krakauer Ghetto, floh im März 1943 und wurde ins Konzentrationslager Kawenczyn gebracht. Nach dem Krieg lebte Weissberg in Polen, Stockholm, London und Wien. 1951 veröffentlichte er in Frankfurt am Main seine Autobiographie »Hexensabbat. Rußland im Schmelztiegel der Säuberungen«. Guter Jugendfreund Koestlers und Sperbers aus Wien, wohin seine Familie 1907 zog. Sperber erlebte mit Weissberg den Justizpalastbrand (vgl. den zweiten Teil der Autobiographie Sperbers, »Die vergebliche Warnung«, Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 149) und besuchte ihn 1931 in Charkow auf seiner Reise in die Sowjetunion.

4] Richard Aldington (Portsmouth 8. Juli 1892 - Sury-en-Vaux bei Bourges 27. Juli 1962), englischer Schriftsteller, bekannt durch seinen Antikriegsroman »Death of a Hero« (1929). Koestler bezieht sich vermutlich auf seine T. E. Lawrence-Biographie, die 1955 erschienen ist.

5] Sperbers Aufsatz »La misère de la psychologie« (»Vom Elend der Psychologie«) aus dem Jahr 1954, bestehend aus zwei Teilen, »I. Der Psychologe und seine Vergangenheit« und »II. Freud und seine Psychoanalyse«, veröffentlicht in: Preuves. Cahiers mensuels du Congrès pur la Liberté de la Culture 4 (1954), Nr. 46, S. 14-25. Seiner 1970 publizierten Monographie über Alfred Adler und die Individualpsychologie verlieh Sperber denselben Titel: »Alfred Adler oder das Elend der Psychologie« (Wien: Molden).

6] Arthur Koestler: The Trail of the Dinosaur and Other Essays. London, New York 1954.

7] Koestlers 1959 in London und New York publizierte Studie »The Sleepwalkers: A History of Man’s Changing Vision of the Universe« (dt. Übersetzung »Die Nachtwandler: das Bild des Universums im Wandel der Zeit«. Bern 1959) enthält mehrere Kapitel über Leben und Werk Johannes Keplers.

8] Pariser Verlag, bei dem Sperber von 1946 bis 1980 als Verlagsdirektor für fremdsprachige Literatur arbeitete. [3/ S. 36:]

9] Simone de Beauvoir (Paris 9. Januar 1908 - Paris 14. April 1986), französische Schriftstellerin, Lebensgefährtin Jean-Paul Sartres, Vertreterin der Emanzipation der Frau (»Das andere Geschlecht«, »Die Mandarins von Paris«). Ihr Roman »Les Mandarins« (Paris: Gallimard 1954; dt. Übersetzung, Hamburg: Rowohlt 1955) ist ein ›roman à clef‹ über die ideologischen Kämpfe unter den französischen linken Intellektuellen in der Nachkriegszeit. Die Protagonisten sind leicht zu identifizieren: »Dubreuilh« - Jean-Paul Sartre; »Perron« - Albert Camus; »Victor Scriassine« - Arthur Koestler; »Samazelle« - David Rousset. Auch Sperber kommt im Roman als »Manes Goldmann« vor (dt. Fassung, S. 81). Koestler fordert ein Exemplar von Calmann-Lévy, weil er bei diesem Verlag unter Vertrag stand. Drei Jahre zuvor, 1951, publizierte Koestler selbst einen Schlüsselroman, »The Age of Longing«, in dem er Sartre als marxistischen Existentialisten, Professor Pontieux, karikierte. Der Professor ist Autor eines modischen philosophischen Textes über »Negation and Position«, er sei imstande, alles zu beweisen, woran er glaube, und glaube gleichzeitig an alles, was er zu beweisen vermöge.


[3/ S. 37:]

Wolfgang Kraus[1]

Wien, 17. April 1962

Sehr verehrter, lieber Herr Sperber,

Vielen herzlichen Dank für Ihren freundlichen Brief, der während meines Aufenthaltes in der Schweiz in Wien eingetroffen ist, so daß ich erst jetzt dazu komme, ihn zu beantworten. Mit großer Freude lese ich, daß Sie sich nun fest entschlossen haben, nach Wien zu kommen. Ich würde Ihnen vorschlagen, wenn es Ihnen möglich ist, bei uns am 18. Juni um 17h zu sprechen. Wir sind gerade um diese Zeit ein bisschen in Terminschwierigkeiten und wären dankbar, wenn Ihnen dieser Tag zusagt. Die Tageszeit des späteren Nachmittags haben wir deshalb gewählt, weil während der Wiener Festwochen sämtliche Abende mehrfach mit Konzerten und Theateraufführungen blockiert sind, so daß wir für Abendveranstaltungen kein Publikum bekommen. Ich bitte Sie auch noch, lieber Herr Sperber, mir zu sagen, was Sie bei uns lesen oder sprechen wollen. Vielleicht könnte man die Ordnung so treffen, daß sich nachher eine kleine Diskussion anschliessen läßt. Man müßte damit rechnen, daß die Leute um etwa 19h zum Theater aufbrechen können.

Gleichzeitig möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß es mit der Beschaffung eines Quartiers um diese Zeit nicht ganz leicht sein wird, bitte, sagen Sie uns daher möglichst bald, ob und in welcher Preislage wir Ihnen etwas besorgen sollen.

Für Ihre Anregungen zum Thema Altenberg danke ich Ihnen besonders, es wird mir eine große Freude sein, mit Ihnen in Wien darüber persönlich zu sprechen.

Ihr Name fällt sehr oft bei uns, und gerade jetzt, während Erich Fried[2] aus London bei uns in Wien ist!

Vielen herzlichen Dank noch für alles und die herzlichsten Grüße und Wünsche

Von Ihrem
Dr. Wolfgang Kraus

[3/ S. 38:] ANMERKUNGEN

1] Wolfgang Kraus (Wien 13. Januar 1924 - Lienz 19. September 1998), Schriftsteller und Publizist, Gründer und Leiter der »Österreichischen Gesellschaft für Literatur«, regte Anfang der 60er Jahre die ersten Besuche und Vorträge Manès Sperbers in Österreich an.

2] Der Schriftsteller Erich Fried (Wien 6. Mai 1921 - Baden-Baden 22. November 1988) war im April 1962 auf Einladung der »Österreichischen Gesellschaft für Literatur« zum ersten Mal seit seiner Flucht 1938 wieder in Österreich. Er arbeitete zu dieser Zeit in London als politischer Kommentator für das »German Soviet Zone Programme« der BBC, wo er als »unorthodoxer Marxist« den ›real existierenden Sozialismus‹ kritisierte (vgl. Erich Fried und die BBC. In: Einblicke - Durchblicke. Fundstücke und Werkstattberichte aus dem Nachlaß von Erich Fried. Hg. von Volker Kaukoreit. Wien: Turia & Kant 1993, S. 51-69).


[3/ S. 39:]

Miroslav Krleza[1]

Lieber Manès,

Ich schreibe Ihnen vor allem, um Sie zu beruhigen und vor Panik zu erlösen, da doch keine, auch nicht die geringste Gefahr einer Bedrohung Ihres Lebens besteht, wegen Ihrer, zweifellos, ritterlichen Geste, weil Sie mit diskreten, dann aber nicht weniger intimen Schreiben an eine Dame[2] wieder einmal Ihre moralische Existenz riskierten, wie es eben, vor einigen Jahren auf der Costa-Bella auch der Fall war.[3]

Ihr Teufel lässt Sie nicht in Ruh! Trotzdem gebe ich Ihnen hiermit mein Wort und die volle Garantie, dass Sie ruhig schlafen dürfen, genauso wie auch ich ruhig schlafe, obwohl ich Ihnen einige Briefe schuldig blieb. In dieser Hinsicht ist mein Gewissen zwar »nicht rein, aber vollkommen ruhig«, wie es Richard III. sagte, als er sich, höchstwahrscheinlich ebenso falsch, wegen seiner vernachlässigten Korrespondenz entschuldigte, nachdem er um sich herum ein ganzes Panoptikum Puppen umgebracht hatte.

Was könnte ich Ihnen, mein Lieber, zu meiner Entschuldigung sagen? Dass der Gedanke, Sie lebend zu wissen auf dieser unseren kleinen Kugel mir lieb ist, dass mir die Erinnerung an Ihre liebe und überaus charmante und kluge Gattin teuer ist, dass ich bedauere, dass wir uns so selten sehen und dass wir beide daran, mehr oder weniger, die gleiche Schuld tragen, denn wäre der Wunsch auf eine Wiederbegegnung beiderseits tatsächlich unwiderstehbar, sozusagen elementar, würden wir nicht jammern, wie /Händels/ Witwe Kornelia vor dem Leichnam des Pompejus, dass Schluchzen kein Trost sei, was es, übrigens, auch wahrhaftig nicht ist.

Es ist demnach keineswegs ein Trost, dass wir uns gegenseitig beschuldigen, aber - doch - nicht weniger traurig, dass die Zeit dahinfliesst, und wir also doch etwas unternehmen müssten, um eine Begegnung im nächsten 1967-sten Jahr zu vereinbaren. Ich war, nach 34 Jahren /1932-66/ drei Tage in Wien, aber Sie wissen doch sowieso - bis zum Palais Palfy [sic] - alles auswendig.

Weihnachten und Silvester stehen wieder vor der Tür. Alles beste zum Neuen Jahr, wir beiden senden herzlichste Grüsse, auf Wiedersehen.

Ihre B und M. K[4]
Zagreb, 7. XI. 1966

[3/ S. 40:] ANMERKUNGEN

1] Miroslav Krleza (Zagreb 20. Juli 1893 - Zagreb 29. Dezember 1981), kroatischer Schriftsteller. Der polyglotte Lyriker, Dramatiker, Essayist, Romanschriftsteller und leidenschaftliche Polemiker setzt sich in seinem umfangreichen Werk mit dem Erbe der Österreich-Ungarischen Monarchie und der conditio humana auf dem Balkan ebenso wie mit den Fragen der Kunsttheorie und der Weltliteratur auseinander (Novellen »Hrvatski bog Mars« [Der kroatische Gott Mars] 1922; Künstlerroman »Povratak Filipa Latinovicza« [Die Rückkehr des Filip Latinovicz] 1932; dreibändiger politischer Roman »Banket u Blitvi« [Bankett in Blittwien] 1938/39, 1962; Erinnerungsprosa »Djetinjstvo u Agramu« [Kindheit in Agram] 1956; politisch-reflexiver fünfbändiger Roman »Zastave« [Die Flaggen] 1962-1968). Manès Sperber lernte Krleza Anfang der 30er Jahre in Zagreb anläßlich seiner Besuche als Emissär der Individualpsychologie kennen und war von ihm fasziniert. Krleza war der intellektuelle Mittelpunkt der Salons, in die Sperber von seinem Freund, dem Arzt Beno Stein, eingeführt worden war. 1952 forderte Krleza als Vorsitzender des Jugoslawischen Schriftstellerverbandes anläßlich eines Schriftstellerkongresses in Ljubljana die Abkehr vom sozialistischen Realismus als Kunstdoktrin.

2] Sperber fügte oft seinen Briefen an Krleza kurze Schreiben an seine Ehefrau, Bela, bei. Bela Krleza (Senj 26. Oktober 1896 - Zagreb 23. April 1981) war eine bekannte Schauspielerin.

3] Krleza spielt auf eine Eifersuchtsszene an, die sich während einer Autofahrt an der Riviera bei Opatija (Costa-Bella) in Anwesenheit Sperbers zugetragen hat. Die Ehepaare Krleza und Sperber haben in den 60er Jahren mehrere Kurzreisen in Kroatien unternommen.

4] Bela und Miroslav Krleza.


[3/ S. 41:]

Robert Neumann[1]

2. 2. 69

Mein lieber Manès,

ich danke Ihnen sehr für Ihren Brief. Sie durchschauen mich, wie immer: im allgemeinen, daß ich ja tatsächlich das Wenige, das ich »weiß«, sehr viel mehr intuitiv erfasse als mir »erarbeite« (siehe meine Parodien über kaum gelesene Bücher) - und im besondern, daß das einzige Buch meines Freundes und Beinah-Guru, was er mir je geschickt hat, »Plus profond que l’abime«[2] ist - nicht - tausend sondern 325 Seiten lang, und wie lang ist es her, seit ich das las - und noch dazu französisch, das mir schrittweise immer mehr eine fast fremde Sprache geworden ist (und wieviele Seiten meiner eigenen Produktion habe ich Ihnen inzwischen geschickt!), wozu noch kommt, daß meine eigene Einstellung zum Kommunismus (und von der sprechen Sie ja wohl in erster Linie) sich inzwischen von Ereignis zu Ereignis modifiziert hat wie vielleicht für jeden, der den naiven Versuch macht, Ideen von mehr oder weniger usurpatorischen, mehr oder weniger monopolistischen Exekutanten dieser Idee zu trennen - was noch durch Privatkontakt mit diesen Exekutanten doppelt verwirrt wird, da sie so ganz anders unter vier Augen sprechen als coram publico. Nimmt man dazu noch eine westliche Welt, in der so viele großartige Individuen unter so vielen gleichermaßen miesen und korrupten Machthabern sitzen, so erinnert das Gesamtbild an die Geschichte von jenem Juden, dem man in einem Reisebüro zur Auswahl seines Reiseziels einen Globus hinstellt, worauf er nach langem Hin-und-Her-Drehen sagt »Und was Besseres haben Sie nicht?«. Daß im gegenwärtigen Augenblick nach den Dingen in der Tschechoslowakei und während der systematischen Anheizung eines neuen Antisemitismus Ihre und meine Einstellung nahezu identisch sein dürften, darüber besteht bei mir kein Zweifel, aber übermorgen mag das wieder ganz anders aussehen - Neues mag eintreten, auf das ich durchaus anders reagiere als Sie, der Sie infolge Kombination von tieferer Einsicht und größerer Starrheit ihren Standpunkt nie ändern: so kommt es mir wenigstens vor.

Kein Zweifel - time is running short - und wir sollten doch bald einmal wirklich ausführlich miteinander reden. Machen Sie es doch möglich.

Was ich jetzt schreibe? Zehnerlei - und das heißt: nichts Wirkliches. Ein kleines Buch über Österreich, to keep the pot boiling - ein Fern- [3/ S. 42:] sehspiel über das heutige Gesicht der Emigration - auch eine Neugruppierung und Ergänzung der Parodien habe ich gemacht - eine unernste Eristik (zunächst ein Abschnitt über den Umgang mit Frauen, mit vielen Beispielen, ist fertig); von Enfants de Vienne[3] habe ich eine entaktualisierende deutsche Version gemacht in einer Phantasiesprache, einem Kauderwelsch aus amerikanisch, deutsch, wienerisch, jiddisch - das ist fertig; nur geplant und nicht angefangen ist ein weiteres Stück Autobiographie auf wieder eine ganz andere Manier.

Sie sehen, man tut, was man kann, um das Altwerden zu überlärmen.

Dazu aber läse ich doch sehr gerne wieder einmal ein Buch von Ihnen. Da mir das Französische nicht leicht fällt - haben Sie ein deutsches oder englisches?

Alles Liebe und Herzliche wie immer,

Ihr
Robert

ANMERKUNGEN

1] Robert Neumann (Wien 22. Mai 1897 - München 3. Januar 1975), österreichischer Schriftsteller, studierte in Wien Medizin, Chemie und Germanistik. Im Jahr 1927 legte er die Parodien »Mit fremden Federn«, vor, die seinen literarischen Ruhm begründeten. 1933 emigrierte er nach England, lebte seit den 60er Jahren im Tessin; langjähriger Freund Manès Sperbers.

2] Der zweite Teil der späteren Romantrilogie Sperbers »Wie eine Träne im Ozean«, 1950 bei Calmann-Lévy in Paris erschienen. Der Roman ist in die deutsche Fassung der Trilogie mit dem Titel »Tiefer als der Abgrund« eingegangen.

3] Neumann schrieb 1946 innerhalb weniger Wochen in englischer Sprache den Roman »The Children of Vienna«, der im selben Jahr in London erschien. Seine Absicht war es, das Gewissen der Siegermächte wachzurütteln. Der Roman wurde in 25 Sprachen übersetzt, in deutscher Fassung erschien er erstmals 1948 in Amsterdam.


[3/ S. 43:]

Gustav Regler[1]

5. I. 48

Lieber Manes - erst einmal: »ein besseres Jahr!« Malraux nennt 1948 »l’annee cruciale pour la France«, das waere es dann in gewissem Sinn fuer uns alle; ich will nicht endgueltig »zurueckkehren«, aber ich moechte einen Blick tun, in die engere Heimat, die mich groteskerweise als ihren »grossen saarlaendischen Dichter« feiert, und auf Frankreich, das in mir seit Vernet immer ein Gemisch aus Unbehagen und Sehnsucht hervorruft. Inzwischen bringt West-Deutschland Buecher heraus, waehrend in seinem Osten die Becher und Seghers beweisen, dass sie nie verzeihen und jeden Staatsapparat ausnutzen werden, um sich zu raechen an all denen, die den Mut hatten, zu dem ihr Protoplasma nicht ausreicht. Du wirst bald Buecher sehen. Malraux schreibt, er habe mit Dir gesprochen, auch ueber No Continuing City,[2] und ueber den Saboteur in Baden-Baden.[3] Zu letzterem nur soviel, dass er, nicht mehr sabotiert; er ist wegen Unterschlagung von Geldern abgesetzt worden; le camerade. Der Roman scheint bei Gallimard zu liegen; wenn er angenommen werden sollte, und zu viele Seiten haben sollte, moechte ich nicht, dass dies ein Hindernis ist; in der englischen Ausgabe, die ich im Augenblick vorbereite, habe ich zwei Kapitel aus den »Revival of the survivors«[4] herausgenommen und alle Freunde finden, dass damit eine gute Konzentration gegeben ist; ohne Dich vor einer Entscheidung mit solchen Details zuviel belaestigen zu wollen, nur dies: [I]ch nahm heraus (und empfehle Euch dasselbe) das Kapitel, das von EMILY handelt, der Witwe von Charles, und das Kapitel, in dem Dr. Moulton[5] wieder gewonnen wird zur Arbeit. Es sind nur einige Zeilen (?) Uebergang zu verbessern, was ich gern von hier aus tue; im Sinn wird nichts gestoert. Ich hoffe sehr, das[s] Ihr dieses Buch wert des Drucks und des Schwarzen-Markt-Papiers findet; es liegt mir sehr an ihm; wobei ich die anderen Kinder nicht zu Stiefkindern erklaeren will. Du wirst zu Gesicht bekommen Amimitl,[6] die historische Novelle ueber der Azteken Anfang; fast gleichzeitig im Januar wird ankommen (durch Malraux) Vulkanisches Land, die Studie ueber Mexikos Charakter, bis zur Neuzeit fortgefuehrt; ein Reisebuch; eine ethnologische Studie; eine Abgrenzung vom Vergangenen; eine Kritik der neuen Versuche. Nicht mehr ueber die anderen Buecher. Ich wollte nur den Faden wieder aufnehmen; ich hatte Dir lange auf Deinen ersten Brief geantwortet; ohne Antwort zu bekommen. Schreib mir also, was Du wissen willst; ich werde sofort antworten.

[3/ S. 44:] Ich gab vor ein paar Tagen einen Neujahrsgruss in Form eines Kilos geroesteten Kaffees fuer Dich auf den Weg; trink ihn in Erinnerung an die Stunden in Hyères;[7] nicht an die in der Cité universitaire; wo Du ploetzlich dastandest mit der Zeitung in der Hand (1939) und sagtest: »Sie haben es gewagt.« Die Russen waren in Polen eingebrochen. Denselben Satz in seiner ganzen Schwere hatte ich zum letzen Mal in Berlin gehoert; als man in Boston Sacco und Vanzetti auf den elektrischen Stuhl gesetzt hatte. Genau dieselbe Schlagzeile hatte die Berliner Presse gefuehrt. Und der Satz war so schrecklich berechtigt, dieses Mal. Ich moechte gern einen Abend mit Dir diskutieren ueber die »Schuld« von uns allen, von der Du sprichst; es waere vieles dazu zu sagen. Vielleicht wird es dieses Jahr. Drueck den Daumen, und schreib diesmal.

Herzlichst wie immer Dein Gustav Regler

ANMERKUNGEN

1] Gustav Regler (Merzig an der Saar 25. Mai 1898 - New Delhi 14. Januar 1963), Sohn eines Buchhändlers, wurde Soldat im Ersten Weltkrieg, studierte Philosophie, Französisch und Geschichte in Heidelberg und München, promovierte bei Friedrich Gundolf mit einer Arbeit über »Die Ironie im Werk Goethes«. Seit 1918 war er als Publizist tätig. 1928 lernte er in Worpswede seine spätere Frau Marieluise Vogeler, Tochter des Malers Heinrich Vogeler, kennen. Um diese Zeit trat er der KPD bei, engagierte sich in der Parteizelle in der ›roten‹ Künstlerkolonie am Breitenbachplatz in Berlin, wo Anfang 1933 auch Manès Sperber wohnte. Im Pariser Exil seit März 1933, arbeitete Regler an Willi Münzenbergs »Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror« mit. Er kämpfte als Freiwilliger bei den internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg. Im September 1939 wurde Regler nach dem Überfall auf Polen von den französischen Behörden im Internierungslager Le Vernet festgehalten, konnte im Frühjahr 1940 nach Intervention des amerikanischen Hilfskomitees entlassen werden. Er floh über New York nach Mexiko. Hier löste er sich ganz vom Kommunismus. Sein Leben lang war er mit André Malraux eng befreundet. Er lebte in einem abgeschiedenen Dorf, unternahm jedoch regelmäßig ausgedehnte Reisen. Im Jahr 1958 veröffentlichte er seine Autobiographie »Das Ohr des Malchus«. Er starb während einer Studienreise nach New Delhi.

2] Der sogenannte »amerikanische« Roman Reglers, den er 1948 in englischer Sprache schrieb. Erst 1997 konnte der Roman beim Verlag Stroemfeld / Roter Stern in Basel in deutscher Übersetzung als »Keine bleibende Stadt«, zusammen mit dem schon 1948 in Stuttgart gedruckten Roman Reglers »Sterne der Dämmerung«, erstveröffentlicht werden. [3/ S. 45:]

3] Vermutlich versuchte Regler seinen Roman »Sterne der Dämmerung« in der französischen Besatzungzone drucken zu lassen, was offensichtlich scheiterte. Schließlich wurde er in Stuttgart (Behrendt-Verlag Karl M. Fraas) in einer Auflage von 5.000 Exemplaren gedruckt und im Juli 1948 in der amerikanischen Besatzungszone zum Verkauf freigegeben.

4] Ein Kapitel des Romans »No Continuing City«, in der deutschen Übersetzung von 1997 das neunte Kapitel (»Besuch bei den Überlebenden«).

5] Emily, Dr. Moulton: Figuren in Reglers »No Continuing City«.

6] »Amimitl oder die Geburt eines Schrecklichen« und »Vulkanisches Land«: die sogenannten »mexikanischen« Erzählungen Reglers, beide 1947 in Saarbrücken erstmals veröffentlicht.

7] Hyères: Sommer- und Winterkurort und Seebad im südfranzösischen Departement Var, östlich von Toulon.


[3/ S. 46:]

Boris Souvarine[1]

Paris, 6. Mai 1977

Merci beaucoup, mon cher Manès, pour »Le pont inachevé«.[2] J’avance lentement, laborieusement, sur ce pont, armé de ma loupe qui est bien décevante. Je suis indigné du mode actuel de brochage qui oblige de tenir le livre à deux mains, alors qu[e] je n’ai pas de troisième main pour manœuvrer ma loupe.

Je n’ai fait que traverser l’Europe centrale pour aller à Moscou et en revenir. Comparant votre sort au mien, au nôtre en France, je vois mieux combien nous étions privilégiés, alors que nous jugions notre condition intolérable ... Si jeunesse savait!

J’ai en affaire à Bela Kun.[3] C’était une sinistre brute. Il a commis des atrocitès en Crimée, ordonnant l’exécution des officiers et des soldats de l’armée Wrangel[4] auxquels on avait promis la vie sauve pour qu’ils se rendent. Quelle horreur!

Affectueusement à vous,
B. S.

ANMERKUNGEN

1] Boris Souvarine (Ps. für Boris Lifschitz, Kiev 7. November 1895 - Paris 1. November 1984) bekleidete wichtige Ämter in der Kommunistischen Partei Frankreichs und in der Kommunistischen Internationale (u. a. Sekretär des Komitees der III. Internationale). Die Jahre von 1941 bis 1947 verbrachte er im Exil in den USA. Er war Begründer (1957) und Chefredakteur der Zeitschrift »Contrat social« (bis 1961). Der gelernte Kunstdesigner und Journalist hat eine bemerkenswerte Reihe von wissenschaftlichen Studien zu aktuellen Fragen des Kommunismus und seinen Leitfiguren in französischer Sprache vorgelegt. Als aktives Mitglied wirkte er am von Manès Sperber mitorganisierten Kongreß für kulturelle Freiheit mit.

2] Französische Übersetzung des zweiten Teils von Sperbers Autobiographie (»Die vergebliche Warnung«), publiziert 1977 beim Verlag Calmann-Lévy in Paris.

3] Béla Kun (Cehu Silvanici bei Zalau 20. Februar 1886 - Moskau 29. August 1938), Journalist und Revolutionär. Nach Dienst in der Roten Armee der Sowjetunion organisierte er die Kommunistische Partei Ungarns, rief am 21. März 1919 in Budapest die Diktatur des Proletariats aus. Nach dem Zusammenbruch [3/ S. 47:] der Räterepublik floh er nach Wien und ging von dort in die Sowjetunion. Béla Kun kam bei den stalinistischen Säuberungen 1937/38 ums Leben.

4] Während des dreijährigen Bürgerkrieges in der eben gegründeten Sowjetunion war General Pyotr Nikolayevich Wrangel (1878-1928) einer der Anführer der sogenannten »Weißen« (Monarchisten, bürgerliche Kräfte, Sozialdemokraten), die von der Roten Armee unter Anführung Trotzkis zum Jahreswechsel 1921/22 besiegt wurden.


[3/ S. 48:]

Friedrich Torberg[1]

Wien, 9. März 1962

M. Manès Sperber
6, rue Voisembert
Issy-les-Moulineaux (Seine)
Frankreich

Geschätzter Raubvogel aus Paris,

in unsrem Märzheft ist jetzt also der Artikel des Wildlings Zwerenz[2] erschienen, von dem ich Ihnen in München erzählt hatte und der lhnen hoffentlich Spass machen wird. (Dass Reich-Ranicki[3] inzwischen über Ihr Buch geschrieben hat, vermerken wir im nächsten Heft.) Und jetzt wollte ich Sie bitten, sich an der Diskussion um die Begriffs- und Positions-Klärung »links«, die damit in Gang gekommen ist, durch einen schönen, saftigen Beitrag zu beteiligen. Es ist ohnehin hoch an der Zeit, dass wir wieder einmal einen seul et véritable Sperber veröffentlichen (das Heft mit dem Snob-Artikel haben Sie ja inzwischen bekommen).

Bitte lassen Sie mich möglichst umgehend wissen, ob und bis wann ich mit Ihrem Manuskript rechnen darf. Und versuchen Sie sich erst garnicht drauf auszureden, dass Sie sich schon in der »Achillesferse«[4] zu diesem Thema geäussert haben. Das Thema rotiert. Et nos rotamur in illo. (Schon wieder eine schabbesdige Wendung, eigens für Sie konstruiert.)

Herzlichst Ihr
Torberg

ANMERKUNGEN

1] Friedrich Torberg (Ps. für Friedrich Kantor-Berg, Wien 16. September 1908 - Wien 10. November 1979), österreichischer Schriftsteller, ging 1938 in die Schweiz ins Exil, leistete 1939/40 in Frankreich freiwilligen Kriegsdienst, gelangte 1941 über Spanien und Portugal in die USA. Hier lebte er bis 1951, als er nach Wien zurückkehrte. Mitbegründer der Kulturzeitschrift »Forum«. In seinem kulturpolitischen Agieren trat Torberg als Antikommunist hervor und war für den Brecht-Boykott auf österreichischen Bühnen von 1957 bis 1962 mitverantwortlich. Mit Manès Sperber verbindet ihn ein langjähriger kollegial- [3/ S. 49:] freundschaftlicher Kontakt, der seit Torbergs Mitwirkung am Kongreß für die kulturelle Freiheit in den 50er Jahren herrührt.

2] Gerhard Zwerenz (geb. Gablenz, Vogtland 3. Juni 1925), deutscher Schriftsteller. Meldete sich 1942 freiwillig zur Wehrmacht, desertierte zwei Jahre später und blieb bis 1948 in russischer Gefangenschaft. Arbeitete als Volkspolizist und Lehrer und wurde SED-Mitglied, studierte 1952 in Leipzig bei Ernst Bloch. Wegen seiner DDR-kritischen Schriften verfolgt, floh er 1957 in die BRD. Sein umfangreiches Werk umfaßt Romane, Essays, Satiren und Hörspiele. In seiner Abrechnung mit dem DDR-Sozialismus verbindet Zwerenz Trivialliteratur und Pornographie mit der Gesellschaftsanalyse, wobei er sich an den großen amerikanischen Vorbildern Norman Mailer und Henry Miller orientiert.

3] Marcel Reich-Ranicki (geb. in Wloclawek, Polen 2. Juni 1920), schrieb über Sperbers Romantrilogie einen würdigenden Aufsatz, der in seinen Band »Deutsche Literatur in West und Ost. Prosa seit 1945« (München 1963) eingegangen ist. Er nahm an mehreren von Sperber organisierten Konferenzen in Deutschland im Rahmen des Kongresses für die kulturelle Freiheit in den 60er Jahren teil.

4] Sperber veröffentlichte eine Sammlung von Essays mit zeitpolitischer Thematik zuerst beim Verlag Calmann-Lévy (Collection Liberté de l’esprit) in Paris 1957 als »Le Talon d’Achille«; die deutsche Übersetzung, »Die Achillesferse«, erschien 1960 bei Kiepenheuer und Witsch (Köln, Berlin). Insbesondere mit dem Essay »Positionen. In einem Essay über die Linke«, verfaßt Anfang 1953, rechnet Sperber mit seinen französischen linken Widersachern ab.


[3/ S. 50:]

Leiser Zerwanitzer[1]

Jerusalem, 12. Okt. 1958.

Mons. Manes Sperber
6, Rue Voisembert
Issy-Les-Moulineaux Seine

Mein sehr lieber Freund!

1. Ich danke Dir herzl. f. Deinen Brief vom 12. 5. 58 als Erwiederung [sic] auf mein Schreiben v. 7. 4. l. J. Mein Junge hat Dich am 4. 7. 58 in Paris besucht u. den Eingang Deines Briefes bestätigt.

Deinen vorletzten Brief hast Du an mich am 24. 7. 1951 gerichtet. Aus dieser Feststellung bitte ich Dich - nach Möglichkeit - nichts abzuleiten, denn ich glaube mehr an Deinen als meinen Gerechtigkeitssinn.

Die Verspätigung in meiner Erwiederung belastet mich schon schwer. Ich bitte Dich vielmals nicht ungehalten zu sein.

2. Ich habe mich mit dem Bericht über Dich und Deine Familie, welcher günstig ist, sehr gefreut.

3.a / Zu Pessach habe ich die Sedereinladung meiner Nichte, die in Tel-Aviv wohnt, nicht angenommen. Ich blieb in J’lem in der Hoffnung, dass wir einander leichter finden würden. (Den Seder verbrachte ich auf der Strasse.)

An verschiedenen Abenden dehnte ich meine Spaziergänge aus, lauschte in der Umgebung der grösseren Hotels nach Deiner Stimme, die ich an der Klangfarbe sofort erkannt haben würde.

b / Ich rekonstruierte unsere erste Begegnung in Gleichenberg im Sommer 1920 oder 1921 (?).

Unter Deiner imposanten Frisur fand ich s[ehr] kritische aber auch milde Augen u. ein sanftes, diskretes Lächeln. Natürlicherweise haben mich die schief fallenden Sonnenstrahlen (Sonnenuntergang?) in meiner Beurteilung beeinflusst.

Das ist das schönste Bild, das ich in meinem Gedächtnis von Dir bewahrt habe.

Du warst ohne Brille und ich konnte Dich ohne Hindernis sehen.

Einige Momente betrachteten wir einander und schwiegen. - Bald kam die akustische Wirkung: Deine Stimme war bei Dir - als 15jährigen - reif und beherrscht. - Die Klangfarbe verleitete mich zur Annahme, dass ich es mit einem musikalischen Menschen zu tun habe.

Die rythmischen [sic] Bewegungen, die leicht, flott u. elegant waren, bestätigten mir meine Annahme.

Du warst intensiv mit Problemen der Jugenderziehung beschäftigt; Deine Abhandlungen waren in einem Hefte eingetragen.

Unter anderem sprachen wir auch über Mathematik u. unbrauchbare Pädagogen[,] bei denen die Schüler jedes Interesse für ihren Gegenstand verlieren.

Ich bekam von Dir eine Liste von lesenswerten Büchern.

c / Die nächste Rekonstruktion war der Sommer 1925. Ich hatte Gelegenheit[,] Deine hervorragende Beherrschung u. Korrektheit bei einer Auseinandersetzung zu bewundern.

d / Die Rekonstruktion Deines »Scharlattan« vom J. 1926 (?)[2] machte mir Schwierigkeiten.

In meinem Gedächtnis ist die Selbs[t]rechtfertigung des Scharlattans eine Anklage gegen die reglementäre Erziehung u. Bildung.

Auch die dort erwähnte Zeitökonomie, ein Problem, mit dem ich nie in meinem Leben fertig werden konnte, interessierte mich sehr.

Meine leider mangelhafte Sympathie für Lisoczka[3] war ein Hindernis, sie in meinem Gedächtnis wachzurufen.

Die Typen waren exakt dargestellt, ich sah sie im Raume scharf, eindeutig u. voll Leben.

Jede Handlung hatte ihre Musik und die Typen ihre Motive.

Nach Deinen Vorlesungen meinte ich bescheiden: dass die Menschen in Wirklichkeit weder soviel wissend noch so weise wären, wie sie im »Scharlattan« dargestellt erscheinen.

Du sagtest mir - vielleicht zum Trost -[,] dass Du die Absicht hättest[,] einen ganz einfältigen Menschen darzustellen.

Ich fragte mich: Warum ist Dein »Scharlattan« nicht erschienen?

e / Dann kam an die Reihe Deine Broschüre über »Individualpsychologie u. Psychoanalyse« aus dem Jahre 1926 (?)[4]

Unser Freund, Dr. Horowitz,[5] hat sie sehr gründlich durchstudiert, bewundert u. sehr gelobt. Er fand sie genial.

Ich bemühte mich, die Fiktionen beider Richtungen zu erfassen. Es wäre arrogant von mir, Deine Arbeit zu loben.

f / Die Erinnerungen an unsere Begrüssungen am Westbahnhofe in Wien brachten mir Freude.

Eines Tages bist Du in einem sehr feinen u. hübschen grauen Hut erschienen. Dein Haar wehrte sich gegen ihn - offenbar weil es den Hut als Entweihung Deines Hauptes empfand. Du hast auch den Hut nicht sehr sanft behandelt. Es war nicht schwer zu erraten warum.

[3/ S. 52:] g / Die Zeit Deiner Rückkehr nach Wien konnte ich auch aus Deinem Werke »Der verbrannte Dornbusch«,[6] welches ich 7-8 Mal gelesen habe, rekonstruieren.

Und jedes Mal beherrscht mich bei der Lektüre eine kontinuierliche Trauer, die sich zeitweise bis zu einer gewissen Erschütterung steigert.

Manchmal bemühe ich mich, die Begleitmusik zu erraten. Gustav Mahler?

h / Nun kam das Kapitel, das im starken Masse gegen mich spricht.

In den letzten 7 Jahren dachte ich oft in Dankbarkeit an Deine grossen Anstrengungen u. Hilfe, die Du mir in der Lungenheilanstalt vor u. nach der Operation geleistet hast.

Wenn ich auf Deinen letzten Brief vom 24. 7. 1951 nicht so reagiert hatte, wie zu erwarten war, so ist es auf meine miserable Verfassung, in der ich mich nach der Operation, in der Heilanstalt u. nach[h]er befand, zurückzuführen.

Mir fehlt der seelische Tiefblick, um darüber klar berichten zu können, weshalb ich es unterlassen muss.

Nach meiner Rückkehr nach Jerusalem im Okt. 1951 - nach 18 Monaten - hielten mich die Bekannten für einen Todeskandidaten. Es war nicht leicht, wieder zur Arbeit zugelassen zu werden.

Die Menschen machten um mich einen Bogen, und ich war ihnen sehr entgegenkommend.

Ich war mir im klaren, dass die für mich von den Menschen des medizinischen Corps und auch anderen geleisteten mühseligen Arbeiten mich verpflichten, den Weg zurück in das alltägliche Leben zu finden.

Ich bitte Dich, es nicht als nachträgliche Konstruktion zu betrachten, wenn ich Dir sage, dass es ein Zeitintervall gab, wo Du noch der einzige Mensch warst, der mich mobilisieren und vorwärts bringen konnte.

i / Und nun, da ich mir alles viel detaillierter reproduziert hatte, wagte ich zu denken: Vielleicht bin ich schon längst aus der Arche Noah’s ausgeschlossen? Vielleicht ahne ich es nicht und will es auch nicht wahrhaben? Sicher habe ich Schuld. Nun muss ich meine Fehlleistungen büssen.

Ich versuchte mich zu trösten u. meinte, dass man mit 66 Jahren es nicht mehr sehr weit hätte, den Gipfel Ararat zu erreichen.

Schweren Herzens bemühte ich mich ein Gefühl der Resignation herzuzaubern, aber an ihrer Stelle kam über mich eine Trauer. Um sie abzuschütteln, sang ich abwechselnd in 1. u. 2. Stimme:

»Sumno meni Boze! Tak weczer jak rano, hej tak weczer jak rano«[7]

[3/ S. 53:] 4.a / Am nächsten Tage, 7. 4. 58, richtete ich an Dich ein kurzes Schreiben.

b / Deine Antwort v. 12. 5. 58 ermöglichte es mir, mich mit mir auszusöhnen u. mich von einer langjährigen Spannung zu befreien.

Und da ich nun Deiner Freundschaft wieder gewiss bin, kommt mir das Leben irgendwie sinnvoller vor.

c / Ich kann nicht eindeutig erklären, warum ich nicht früher Deinen Brief erwiedert [sic] habe.

Zunächst wollte ich mich möglichst lange mit Deinem Schreiben freuen u. befürchtete, dass nach meiner Erwiederung meine Freude [sich] verflüchten könnte. Die gefangene Freude hört aber auf, wenn man sie nicht mit jemanden teilen will.

d / Dann schickte ich mich an[,] Deine Behauptung, dass ich auf Deinen Brief v. 24. 7. 51 so reagiert hätte, als ob Du mir Unverstä[n]dnis statt Freundschaft entgegengebracht hättest, zu widerlegen.

Ich habe die Copie meiner Antwort v. 3. X. 1951 nochmals durchgelesen u. komme nicht zu demselben Ergebnis wie Du. Ich bedauere aber sehr, dass mein Schreiben unverzeihliche Fehlleistungen hat, und ich bitte Dich sehr um Verzeihung.

5 / Das von mir mit Spannung erwartete Buch: »Die verlorene Bucht«[8] ist bedauerlicherweise nicht angekommen.

6 / Den im Briefe v. 7. 4. 58 genannten Betrag konnte ich wenige Tage später auf das doppelte erhöhen.

Ich habe mir sofort das Radio reparieren lassen; natürlich ein Geschenk von Dir. Herzlichsten Dank!

Es kommen noch andere Sachen. Im gegebenen Zeitpunkte werde ich Dir darüber berichten.

Ein beträchtlicher Teil bleibt aber als Reserve. Es wird mich freuen, wenn Du über sie verfügen wolltest.

7 / Ich bitte Dich, mein sehr lieber Freund, nicht ungehalten zu sein, dass ich es wage, meinen Bericht zu unterbrechen. Es ist bereits heute der 19. Okt. 58 und ich habe meinen Brief noch nicht weggeschickt.

Morgen möchte ich dieses Schreiben recomm. aufgeben.

Mein Junge ist am 19. 7. 58 aus Europa zurückgekehrt. Er hat mich erst am 1. Okt. 58 besucht. Sein Bericht war ganz knapp. Der Besuch dauerte etwa 1 1/2 Stunden.

Ich wünsche Dir und Deiner Familie alles Gute und begrüsse Euch herzlichst!

LZerwanitzer

[3/ S. 54:] ANMERKUNGEN

1] Nach Manès Sperbers Auskunft in seiner Autobiographie wurde sein mathematisch wie musikalisch begabter Jugendfreund Leiser Zerwanitzer um 1887 geboren. Das Studium an der Technischen Hochschule in Wien konnte er nach der Heimkehr aus dem Krieg nicht beenden, gab dann auch das Violinspiel auf. Er starb um 1959 in Israel an Tuberkulose. In seiner emphatischen Skizze über diese dauernde Freundschaft, obzwar eine der merkwürdigsten seines Lebens, die in Gleichenberg begonnen hatte, zeichnet Sperber das Portrait eines sympathischen, begabten Mannes, der aufgrund ungünstiger Lebensumstände nicht richtig Fuß fassen konnte. Zerwanitzers Versuch, Sperber in die höhere Mathematik einzuführen, mißlang. Er hatte, so Sperber, eine strenge, abrupte Sprechweise und gebrauchte unaufhörlich soldatische Klischees (vgl. Die vergebliche Warnung. Frankfurt am Main: S. Fischer 1993, S. 62f.).

2] Seinen bisher unveröffentlichten Erstlingsroman »Der Charlatan und seine Zeit« schrieb Sperber 1924 als 19jähriger in Wien.

3] Weibliche Hauptfigur des Romans »Der Charlatan und seine Zeit«, die Frau eines russischen Revolutionärs. Sperber schreibt den Namen »Lisotschka« und »Ljisotschka«.

4] Im Jahr 1926 publizierte der 21jährige Sperber in München (Bergmann Verlag) die 39 Seiten umfassende Broschüre »Alfred Adler. Der Mensch und seine Lehre«, eine Huldigung an Adler und gleichzeitig heftige Polemik gegen die Psychoanalyse. Den Aufsatz »Individualpsychologie u. Psychoanalyse« verfaßte er im März 1929 in Berlin für die amerikanische liberale Zeitschrift »American Mercury«.

5] Psychologe aus dem Umkreis Alfred Adlers.

6] Der erste Teil der späteren Romantrilogie Sperbers »Wie eine Träne im Ozean«, an dem Sperber von 1940 bis 1948 arbeitete, erschien 1949 beim Internationalen Universum-Verlag in Mainz. Dieser Verlag gab auch die von Sperber im Auftrag der französischen Regierung in der französischen Besatzungszone edierte Kulturzeitschrift, »Die Umschau«, heraus (1946-1948). Sperber hat die drei Romane seiner Trilogie deutsch geschrieben und sie mit der Übersetzerin Blanche Gidon ins Französische übertragen. Sie erschienen zuerst in französischer Sprache beim Pariser Verlag Calmann-Lévy, erst nachträglich im deutschen Original. Die Autographen mit der deutschen Erstfassung der Romane werden in Sperbers Nachlaß im ÖLA aufbewahrt.

7] Offensichtlich ein ruthenisches Lied, das von den mehrheitlich aus Ostgalizien stammenden Mitgliedern der jüdischen linken Jugendorganisation Hashomer Hazair gesungen worden war.

8] Der dritte Teil der Romantrilogie Sperbers erschien als selbständiger Roman in deutscher Fassung 1955 bei Kiepenheuer und Witsch (Köln, Berlin). Der zweite Teil der Trilogie, »Tiefer als der Abgrund«, wurde in deutscher Sprache nicht als selbständiger Roman veröffentlicht, sondern erst in der Trilogie »Wie eine Träne im Ozean« (Köln, Berlin: Kiepenheuer und Witsch 1961). In französischer Sprache erschienen die Romane beim Pariser Verlag Calmann-Lévy: »Et la buisson devint cendre« (1949), »Plus profond que l’abime« (1950), »La [3/ S. 55:] baie perdu« (1952). Sie wurden vom französischen literarischen Publikum sowie von Sperbers Schriftstellerkollegen, darunter auch Raymond Aron, Albert Camus, Eugène Ionesco und André Malraux, mit großer Anerkennung aufgenommen. Über »Et la buisson devint cendre« schrieb Arthur Koestler in seiner oft zitierten Rezension »Demi-vierges und gefallene Engel. Ein gefährlicher Flirt mit dem Totalitarismus« (in: Der Monat, Berlin, Nr. 11, Oktober 1949): »Mit einem Wort, dieser Roman ist so etwas wie eine Saga der Komintern, der erste seiner Art, und damit ein hochbedeutsames Ereignis.«




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